Mehr als drei Jahre tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine nun schon. Wie lange kann das Land die immer heftiger werdenden Angriffe von Wladimir Putins Armee noch durchhalten? In der Nacht zu Mittwoch gab es erneut Tote und Verletzte. In Charkiw im Osten des Landes wurden nach Angaben der regionalen Behörden bei einem Drohnenangriff mindestens drei Menschen getötet, dutzende wurden verletzt, darunter auch Kinder.
Auch die historische Schwarzmeer-Stadt Odessa ist immer wieder Ziel der russischen Aggression, wird mit Marschflugkörpern und Drohnen angegriffen. Hier gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem Axel Springer Global Reporters Network, zu dem auch WELT gehört, ein Interview.
Sind die zuletzt immer heftigeren Angriffe mit bis zu 500 Drohnen Moskaus Rache für die spektakuläre ukrainische Attacke auf die Langstreckenbomber, die sogenannte „Operation Spinnennetz“? Nein, stellt Selenskyj klar: „Auch einen Tag davor haben sie einen Rekordangriff durchgeführt.“ Der russische Diktator Putin „sucht nach Gründen, um die Ukraine angreifen zu können. Er möchte den Krieg einfach nicht beenden“.
Zwar glaube die russische Gesellschaft Putins radikaler Politik. „Aber er muss das Feuer der Informationen und des Hasses aufrechterhalten“, so Selenskyj. Deswegen deute Putin seine Angriffe zu Rache-Aktionen um.
Die Meldungen über Moskaus gewaltige Vorstöße an der Front weist Selenskyj zurück: Dass Putins Armee den Krieg gewinne, sei „ein russisches Narrativ“. Seine Streitkräfte wehrten seit fast drei Wochen eine neue Offensive ab, so der Präsident. Die Russen seien „gelinde gesagt nicht so erfolgreich“.
Und was ist mit den Friedensverhandlungen? Der ukrainische Präsident traut Moskau nicht – und erklärt im Interview das Hauptziel der Russen: „Für sie ist es wichtig, Trump zu zeigen, dass es eine diplomatische Brücke zwischen der Ukraine und Russland gibt.“
Wozu? „Damit keine Sanktionen gegen Russland eingeführt werden“, solange verhandelt wird. Denn Putin könne immer sagen: „Wir sprechen doch miteinander! Wenn die Sanktionen einführt werden, dann wird es keine Gespräche mehr geben.“
Doch die Russen verfolgten auch noch ein zweites Ziel. Sie wollten „einen Dialog ohne Europäer und ohne Amerikaner“, um die Ukraine zu isolieren. „Ein langer Krieg ohne die Unterstützung der Partner (der Ukraine, Anm. d. Red.) – für Putin wäre das die perfekte Variante“, so der ukrainische Präsident. „Einen langen Krieg mit den Partnern und mit Sanktionen hält er nicht aus.“
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zuletzt einen Vorschlag für ein 18. Sanktionspaket vorgestellt. Im Fokus soll der russische Energiesektor, vor allem Öl, sowie der russische Bankensektor stehen. In Europa hofft man, die Sanktionen mit den Amerikanern koordinieren zu können. Auch in den USA wird über härtere Bandagen gegen Moskau debattiert, im Senat gibt es gewichtige Fürsprecher.
Dem republikanischen Mehrheitsführer John Thune zufolge will die Kammer noch in diesem Monat mit der Arbeit an einem entsprechenden Gesetzentwurf beginnen. Thune sagte, die Trump-Regierung hoffe immer noch auf eine Einigung zur Beendigung des Krieges, aber der Senat sei bereit, den Druck auf Moskau zu erhöhen.
Trotz der netten Worte von US-Präsident Donald Trump über Putin glaubt Selenskyj, dass der Amerikaner den russischen Diktator durchschaut hat. „Präsident Trump sieht, dass die russische Seite nicht ganz offen und ehrlich ist, was den Krieg betrifft“, so der Ukrainer. „Ich denke, dass Russland Trump einfach anlügt.“
Dass Trump nicht nur Putin, sondern auch ihn immer wieder scharf kritisiert, nimmt Selenskyj hin. „Ich werde alles ganz normal aufnehmen, wenn uns das dem Ende des Krieges näher bringt“, sagt er. „Präsident Trump hat seine Taktik gewählt. Ich möchte niemanden verurteilen.“
Der ukrainische Staatschef bleibt bei seiner Überzeugung: „Meiner Meinung nach versteht Putin nichts außer Stärke. Und Amerika hat diese Stärke.“ Die meisten Regierungschefs teilten seine Meinung, sagt er. „Und ich wünsche mir sehr, dass Amerika das sieht und versteht.“
Auffällig: Nach der Eskalation im Oval Office meidet Selenskyj Kritik am amerikanischen Präsidenten. Mehrfach überlegt er lange, bevor er antwortet. Zuerst sagt er: „Ich denke, dass es für ihn historisch gesehen nichts Wichtigeres geben kann, als den Frieden in der Welt wiederherzustellen.“ Er wolle Trump zwar keine Vorschriften machen über dessen Prioritäten: „Aber ich finde, dass es seine Mission als Präsident ist, Putin zu stoppen, weil er das kann.“
Dann wird er deutlicher: „Trump muss die Sanktionen einführen, damit Putin sofort sagt: ‘Lass uns über das Ende des Krieges sprechen.’“ Anders werde es nicht funktionieren. Selenskyj meint damit das Sanktionspaket, das Trump Moskau immer wieder androhte, aber bis heute nicht umgesetzt hat.
Der ukrainische Präsident warnte zugleich eindringlich vor einer Kürzung oder Einstellung der US-Hilfen für sein Land. „Das ist eine Bombe oder eine Mine, wenn die Hilfe der Ukraine entzogen würde. Das kann die Sicherheit in jedem Land sprengen.“ Der amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth hatte zuvor im Kongress eine Reduzierung der Hilfen im nächsten Verteidigungshaushalt angekündigt.
Nach Angaben Selenskyjs läuft die Hilfe der USA aktuell ohne Verzögerungen weiter. Es gebe aber keine neuen Zusagen. „Wenn sie wirklich die Hilfe kürzen, werden wir das spüren“, so Selenskyj. „Das wird die Ukraine spüren, aber auch andere Staaten. Das ist eine Welle der Risiken für andere Staaten, für alle Staaten und vor allem für Europa.“
Auch auf deutsche Marschflugkörper vom Typ Taurus angesprochen überlegt Selenskyj lange: „Die Taurus-Frage ist bedeutend.“ Er weiß, dass Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Lieferung im Wahlkampf versprochen hatte, jetzt aber – auch auf Druck der SPD – zögert. Dann lächelt er vorsichtig: „Ich wünschte, Friedrich würde uns Taurus geben.“
Paul Ronzheimer ist stellvertretender BILD-Chefredakteur und Mitglied des Axel Springer Global Reporters Network. Redaktionell bearbeitet von Caroline Turzer.
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