Der Gerichtssaal in Santa Cruz de Tenerife ist ein steriler Ort: helle Holzverkleidung, weiße Decke, grelles Neonlicht. Drei Richter sitzen unter dem Staatssiegel, flankiert von Staatsanwalt und Verteidigung. Fünf Männer werden in Handschellen und bewacht von Polizisten vorgeführt. Eine Dolmetscherin aus Gambia steht bereit, um die Verhandlung ins Wolof zu übersetzen, die Landessprache der Angeklagten.

An diesem Mittwoch im Juni stehen fünf junge Männer aus dem Senegal vor Gericht gestellt. Der schwere Vorwurf: Sie sollen ein überfülltes Boot gesteuert haben, das am 30. Oktober 2023 mit 210 Menschen auf Teneriffa ankam. Drei Migranten überlebten die Überfahrt nicht. Zwei Leichen wurden an Bord entdeckt, ein weiterer Mann starb kurz nach dem Anlegen im Hafen von Los Cristianos. Die spanische Justiz wirft den Angeklagten Beihilfe zur illegalen Einreise mit Todesfolge vor. Im Falle einer Verurteilung drohen bis zu 20 Jahre Haft.

Der Fall ist einer von immer mehr, bei denen die spanische Justiz Menschenschmugglern das Handwerk legen will - auch in der Hoffnung auf einen Abschreckungseffekt bezüglich möglicher künftiger illegaler Einreisen über die Kanaren-Routen. Eben jene Überfahrten stehen angesichts von Todesfällen auf hoher See vermehrt im Fokus von Sicherheitsbehörden.

Diese Redaktion berichtete Anfang des Jahres über mehrere Fälle der vergangenen Monate, bei denen es zu Gewaltausbrüchen mit Todesfolge an Bord der Migrantenboote gekommen war - etwa bei einem sogenannten „cayuco“, das im August 2024 mit zwei gefesselten Leichen im Hafen der kleinen Kanaren-Insel El Hierro angelegt hatte. Wie die Männer starben, ist unklar, und auch im nun in Santa Cruz verhandelten Fall gibt es noch keine Klarheit über die Todesumstände.

Wie bei vielen ähnlichen Verfahren auf den Kanarischen Inseln stützt sich auch dieser Prozess fast ausschließlich auf Aussagen, die unmittelbar nach der Ankunft in Polizeistationen oder Erstaufnahmezentren (CATE) gemacht wurden. Die Überlebenden befanden sich zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand äußerster Erschöpfung – ohne rechtlichen Beistand, ohne Dolmetscher.

Die Anwältin Sara Rodríguez, die zwei der Angeklagten vertritt, spricht gegenüber WELT von einem „Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien“. Man habe Geständnisse unter Bedingungen erlangt, die jeglicher rechtlichen Absicherung entbehrten. Die Staatsanwaltschaft hingegen wertet die Aussagen als zulässige vorkonstituierte Beweise. Eine Praxis, die auf den Kanaren gängige Rechtsprechung ist, aber zunehmend kritisiert wird.

Großes Interesse der Öffentlichkeit

Die Verhandlung ist öffentlich. Journalisten dürfen filmen und fotografieren, allerdings ohne die Gesichter der Angeklagten, die ihre Unschuld beteuern, zu zeigen; auf den Kanaren, die derzeit einer der Hotspots der europäischen Migrationskrise sind, ist das Interesse an dem Fall groß.

Das Vorgehen der spanischen Justiz ist auch aus gesamteuropäischer Sicht relevant: Nach der Ankunft der Migranten an der Küste setzen die spanischen Behörden die Menschen nur kurzzeitig fest, nach ihrer Freilassung können sie sich frei im Schengen-Raum bewegen. Auch jene, die verantwortlich für schwere Verbrechen während einer Überfahrt sind, können dann ungehindert in andere EU-Staaten reisen.

Werden die Männer in Santa Cruz verurteilt? In der letzten Sitzung hatten Polizisten, Gerichtsmediziner und Überlebende ausgesagt. Doch die Beweislage bleibt dünn. Einige Zeugen berichten, sie hätten die Angeklagten „am Motor“ oder „beim Verteilen von Wasser“ gesehen. Aber wer wirklich das Boot gesteuert hat, kann kaum jemand belegen. Es existieren keine Videoaufnahmen, keine Fotos, keine forensischen Beweise. Verteidigerin Rodriguez spricht von einer „Farce, die auf systematisch lückenhaften Protokollen basiere“.

Urteil in den nächsten Tagen erwartet

Im Zentrum der Verfahren stehen häufig nicht die eigentlichen Fluchthelfer, sondern Menschen, die während der Überfahrt kurzfristig Verantwortung übernahmen. Die Angeklagten gelten für die Staatsanwaltschaft als faktische Kapitäne: verantwortlich für Kurs, Versorgung, Organisation an Bord. Für Anwältin Rodríguez ist das ein Ausdruck der Hilflosigkeit der Behörden. Immer wieder, so sagt sie, habe sie Minderjährige verteidigt, denen willkürlich die Volljährigkeit zugesprochen wurde.

Zweifel an der Praxis der Strafverfolgung gibt es auch aus früheren Verfahren. Rodríguez verweist auf den Fall des „Cayuco der Vampire“, in dem zwei angeblich Zeugen spätere Angeklagte identifiziert haben wollen; WELT AM SONNTAG berichtete im März über den Fall. Auch hier ist die Beweislage dünn, eine Verurteilung erscheint unwahrscheinlich.

Das Urteil in Teneriffa soll nach WELT-Informationen in den nächsten Tagen fallen.

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