Es sind 25 Seiten voller politischem Sprengstoff. Am Donnerstag haben die Grünen einen Abschlussbericht einer von ihnen eingesetzten Kommission veröffentlicht, die das Vorgehen der Partei in der Causa Stefan Gelbhaar untersucht hat. Zur Erinnerung: Dem Bundestagsabgeordneten war Ende vorigen Jahres zunächst anonym vorgeworfen worden, Frauen sexuell belästigt zu haben. Ende des Jahres hatte der RBB schließlich die Vorwürfe konkretisiert, sich dabei auf eidesstattliche Versicherungen gestützt, die sich später jedoch als gefälscht herausstellten.

Vor allem der Umgang seiner eigenen Partei sorgte schon damals für Kritik. Obwohl die Vorwürfe stets vage blieben und Gelbhaar die Vorwürfe stets zurückwies, etwa im Exklusiv-Interview mit Business Insider, ließ ihn die Parteiführung fallen. Der 48-Jährigen zog sich aus dem Bundestagswahlkampf zurück, erlebte sein plötzliches Karriereende. Bereits damals machten Gerüchte die Runde, dass es sich bei den Vorwürfen in Wahrheit um eine politische Intrige gegen Gelbhaar handelt. Von wem? Unklar. Doch genau dieser Vorwurf wird jetzt ausgerechnet von der Kommission gestützt, die die Partei Ende Januar zur Aufarbeitung des eigenen Umgangs mit Gelbhaar beauftragt hatte.

„Instrumentalisierung (...) für parteipolitische Zwecke“

Wörtlich schreiben die frühere Justizministerin Anne Lütkes und der frühere Abgeordnete und Richter Jerzy Montag etwa: „Auch die sich aus den Mitteilungen selbst ergebenden Tatsachen, die zwischen dem Mittwoch, 11.12.24 und Freitag 13.12.24 eingingen, so z.B. dass 7 der beschriebenen Vorfälle 3 bis 7 Jahre zurück lagen und 3 Mitteilungen keinerlei Zeitangaben enthielten, aber alle innerhalb von 48 Stunden und genau wenige Tage vor der Listenversammlung der Ombudsstelle gemeldet wurden, sprechen dafür, dass es zumindest den Organisatorinnen der Meldungen nicht vorrangig um die Einleitung eines Ombudsverfahrens mit dem Ziel der Wiederherstellung eines respektvollen, von Wertschätzung und Vertrauen getragenen Umgangs untereinander ging, sondern um die Instrumentalisierung eines solchen Verfahrens für parteipolitische Zwecke.“

Wen sie mit „Organisatorinnen der Meldungen“ meinen, stellen Lütkes und Montag klar: „Aus den Mitteilungen selbst ergibt sich, dass die Organisation der Mitteilungen wohl innerhalb oder im Umfeld der Grünen Jugend Berlin zu suchen ist.“ Die Grüne Jugend steht innerhalb der Partei äußerst links und gilt seit Jahren als Kritiker von Gelbhaar, der eher zu den Pragmatikern in der Partei gezählt wird.

Details über Meldungen an Ombudsstelle

Im Bericht werden auch erstmals Details zu den parteiinternen Meldungen gegen Gelbhaar genannt, die die parteieigene Ombudsstelle im November erreicht hatten: „Zehn der gemeldeten Fälle beschreiben zum Teil keine sexualisierte Gewalt oder Grenzverletzungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung oder sie liegen im Grenzbereich von Fehlverhalten. Es liegt nahe, dass sie ohne organisierte Hinweise nicht in dieser Vielzahl und nicht in einem so engen zeitlichen Zusammenhang angezeigt worden wären. Ein organisierender Wille, noch vor der Listenaufstellung Druck auf die Listenversammlung und die Organe der Berliner Partei aufzubauen, ist erkennbar.“

Die Kommission geht auf drei angeblich besonders schwerwiegende Vorwürfe gegen Gelbhaar ein, der in dem Bericht „S.G.“ abgekürzt wird: „Drei Mitteilungen erfordern eine besondere Aufmerksamkeit und Bewertung. Innerhalb von 15 Minuten – um 10,14h, 1024h und 10.29h – erreichten die Ombudsstelle Mitteilungen über strafbare Handlungen nach §§ 177 ff StGB – sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung - die S.G. begangen haben soll. Zwei vermeintliche Opfer dieser Straftaten berichten anonym von Vorfällen, die ein Jahr zurückliegen sollen, ein dritter Vorfall wird überhaupt nicht zeitlich festgelegt.“

Deutliche Kritik an Parteiführung

Das knallharte Urteil der beiden Juristen über den auffallenden zeitlichen Zusammenhang: „Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass drei Mitteilungen mit derart schwerwiegenden Beschuldigungen innerhalb von 15 Minuten rein zufällig bei der Ombudsstelle angekommen sind. Vielmehr spricht der enge zeitliche Zusammenhang und die Schwere der Beschuldigungen, alle drei vorgetragen in beanspruchter Anonymität – also ohne Möglichkeit einer umgehenden Plausibilitätsüberprüfung – für ein koordiniertes Vorgehen besonders dieser Mitteilerinnen.“ Mit anderen Worten: Die Vorwürfe gegen Gelbhaar kurz vor der Listenaufstellung der Berliner Grünen im November 2024 erfolgte organisiert und offenbar mit dem Ziel, ihn als Kandidat im Bundestagswahlkampf zu verhindern.

Das schreiben die beiden Experten an anderer Stelle auch deutlich, verbunden mit Kritik an der Parteiführung auf Bundes- und Berliner Landesebene, sie hätten Gelbhaar vorschnell verurteilt. „Bei unserer Einschätzung war ausschlaggebend, dass nicht in Betracht gezogen wurde, dass es sich bei den ab Mittwoch, den 11.12.24 einstürzenden Meldungen um ein zumindest organisiertes Vorgehen mit einer politischen Zielsetzung handeln könnte. Dies mit dem Argument zur Seite zu schieben, dass Frauen sich in Fällen sexuell konnotierter Übergriffe manchmal jahrelang scheuen, solche Übergriffe zu melden – was sehr wohl richtig ist – ist im konkreten Fall nicht stichhaltig. Denn unzweideutig ergibt sich im vorliegenden Fall die Nutzung des Ombudsverfahrens für politische Zwecke – hier für die Verhinderung einer Kandidatur von S.G. auf der Berliner Landesliste – aus einigen Meldungen selbst.“

RBB ließ sich instrumentalisieren

Im Abschlussbericht wird auch deutlich, dass der RBB sich offenbar von den Hinterleuten der Meldungen gegen Gelbhaar haben instrumentalisieren lassen. Demnach seien fünf der 13 Meldungen an die Ombudsstelle „vor oder am 27.12. dem rbb zur Veröffentlichung von Vorwürfen gegen S.G. vorgelegt. Bei den vier eidesstattlichen Versicherungen – drei datieren vom 29.12. und eine vom 31.12.24 - drängt sich der Verdacht aufdrängt (sic!), dass sie gemeinschaftlich oder nur von einer Person gefertigt worden sind“.

Weiter: „Zusammenfassend spricht viel dafür, dass es sich zumindest bei drei Meldungen um erfundene schwerwiegende Sachverhalte handelt, umrahmt von Gerüchten aus der GJ Nord aus dem Jahr 2021. Zumindest diese drei Meldungen verfolgten allem Anschein nach im Zeitpunkt der Meldungen an die Ombudsstelle den Zweck, negativen Einfluss zu Lasten von S.G. auf die Aufstellungsversammlung Berlin am 14.12.24 auszuüben. Danach wurden diese Meldungen unter Missachtung der Bitte der Ombudsstelle um Vertraulichkeit an die Presse ausgereicht, um durch Veröffentlichungen weiteren Druck innerhalb des Kreisverbands Pankow auszuüben, mit dem Ziel, auch die bereits erfolgte Wahl von S.G. als Direktkandidat im Wahlkreis Pankow zu wiederholen.“

Mehrere Frauen halten Vorwürfe aufrecht

Sechs Meldungen an die Ombudsstelle mit angeblichem Fehlverhalten Gelbhaars würden bis jetzt aufrechterhalten, heißt es im Bericht weiter. Dabei handle es sich um möglicherweise übergriffiges, aber nicht strafrechtlich relevantes Verhalten. Inhaltlich bewerten könne die Kommission diese nicht, heißt es im Bericht.

Lütkes und Montag empfehlen jedoch, diese Meldungen nicht im Rahmen der Ombudsstelle weiterzuverfolgen. Der Grund: „Das bisherige Ombudsverfahren leidet an fehlender innerparteilicher Legitimität, an fehlenden Verfahrensstrukturen und einer fehlenden Verfahrensordnung sowie an erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten und Definitionsmängeln. (...) Diese Mängel sind auf die Schnelle nicht zu beseitigen.“

Auf mehreren Seiten machen die beiden Rechtsexperten Vorschläge, wie die Partei ihre Strukturen verbessern könnten. „Der Bundesvorstand sollte einen Prozess anstoßen, der im Ergebnis die Ombudsstrukturen der Partei in der Satzung und in einer Ombudsschiedsordnung verankert. Handlungsleitend sollten sowohl Rechtsstaatlichkeit und demokratische Legitimation wie auch feministische Anforderungen an den Opferschutz sein. Widersprüche müssen grundrechtsschonend aufgelöst werden“, heißt es unter anderem. Bis nicht die Strukturen deutlich reformiert worden seien, sollte die Ombudsstelle keine Verfahren durchführen.

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