Die magische Marke für die Nato-Staaten lag ein Jahrzehnt lang bei zwei Prozent. So hoch sollte der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt(BIP) sein. Aber die meisten Staaten nahmen das Ziel nicht ernst. Dann überfiel Putin die gesamte Ukraine und drei Jahre später kehrte Donald Trump zurück – und die Angst vor Amerikas Abschied aus der Nato.

Plötzlich steht auf dem Nato-Gipfel in Den Haag eine noch vor Kurzem kaum vorstellbare Zahl im Raum: fünf Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben könnte bald die Vorgabe für die Mitgliedsländer sein – 3,5 Prozent für Militär, 1,5 Prozent für relevante Infrastruktur.

Eine für den bevorstehenden Gipfel vorgesehene Erklärung sehe ein Ziel für die Verteidigungs- und Sicherheitsausgaben bis 2035 von fünf Prozent des BIP vor, sagten Diplomaten der Nachrichtenagentur Reuters. Dies hätten alle 32 Nato-Staaten gebilligt. Die Erklärung soll von den Staats- und Regierungschefs am Mittwoch in Den Haag verabschiedet werden.

Doch wie soll dieses Prozentwunder gelingen? WELT und ihre Partnerpublikation „Politico“, die im Axel Springer Global Reporters Network verbunden sind, haben in einer Analyse einen Blick auf die Zahlen geworfen.

Darunter sind Musterschüler, die die Fünf-Prozent-Marke schon fast erreicht haben. Andere wollen nach jahrelangem Nichtstun massiv aufrüsten, Deutschland etwa. Andere Länder sind noch nicht einmal bei zwei Prozent angelangt – und haben noch einen sehr weiten Weg vor sich. „Der Großteil der Nato-Länder hat erkannt, dass sie besser werden müssen“, sagt ein US-Verteidigungsbeamter, der anonym bleiben möchte. „Wir betrachten solche Treffen als sehr öffentliche Gelegenheiten unter den Augen des US-Präsidenten, zu zeigen, dass sie mehr tun werden.“

Der Vertreter eines Nato-Mitgliedslands, der ebenfalls anonym bleiben wollte, sagt, die Nato-Staaten würden tun, „whatever it takes“ („was auch immer nötig sein wird“), um die Zahl nach oben zu treiben. Was er damit auch meint: Schon jetzt greifen viele Länder zu Buchungstricks, um die Prozentzahl aufzuhübschen. Das könnte künftig noch öfter das Mittel der Wahl sein.

Die Musterschüler

Nato-Rekordhalter ist Polen, das 2024 mehr als vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Verteidigung investierte. Im laufenden Jahr wird sogar mit 4,7 Prozent gerechnet, ab 2026 will Warschau dauerhaft über fünf Prozent liegen. Auch die Truppenstärke will Polen erhöhen – und dann nach den USA und der Türkei die drittgrößte Armee in der Nato stellen.

Zugleich ist die Haushaltspolitik Polens wenig transparent. Die polnische Öffentlichkeit erfährt bruchstückhaft aus den Medien von Schattenhaushalten und Auslandskrediten. Es ist schwer zu sagen, wie stark bestimmte Anschaffungen den polnischen Haushalt belasten. Hinzu kommt, dass große Waffenkäufe, etwa in Südkorea und den USA, über viele Jahre verteilt getätigt werden und nicht einmalig in einem Kalenderjahr den Haushalt belasten.

Ähnliche Entwicklungen sind in den baltischen Staaten zu beobachten. Auch 2024 lagen ihre Verteidigungsausgaben deutlich über dem Nato-Ziel: Estland investierte beispielsweise laut Nato-Schätzungen 3,4 Prozent, will im Jahr 2026 auf 5,4 Prozent erhöhen und diesen Wert bis 2030 beibehalten, möglicherweise sogar darüber hinaus. Die beiden anderen baltischen Länder, Litauen und Lettland, haben ähnliche Ambitionen. Ab 2026 werden die drei Staaten wohl Polen von der Spitze verdrängen.

Die baltischen Staaten wollen damit auch ihren Bündnispartnern im Westen zeigen, dass sie bereit sind, einen erheblichen Teil ihrer Sicherheit selbst zu gewährleisten, damit die größeren Nato-Staaten direkter in die Verteidigung der baltischen Staaten investieren. Vertreter der drei Länder haben angedeutet, dass sie die „Stachelschwein“-Strategie Taiwans zur Abwehr einer chinesischen Invasion nachahmen wollen. Das bedeutet, dass sie viel Geld für Luftabwehr, Drohnen, Präzisionswaffen und Schiffsabwehrraketen ausgeben, die sie von der Küste aus auf russische Schiffe der Ostseeflotte abfeuern können, die sie bedrohen könnten.

Zu den Ländern mit einem hohen Anteil der Verteidigungsausgaben am Haushalt gehört traditionell auch Griechenland – das anders als andere Mittelmeerländer bereits über drei Prozent des BIP ausgibt. Zuletzt kündigte Athen, das die verfeindete Türkei abschrecken will, eine zwölfjährige Verteidigungsstrategie an, für die 28 Milliarden US-Dollar ausgegeben werden sollen, mit Schwerpunkt auf Drohnen, Satelliten und dem Luftabwehrsystem „Achilles‘ Shield“.

Zu den Musterschülern gehören natürlich auch die USA, die rund 3,4 Prozent ihres riesigen BIP für Verteidigung ausgeben, womit sie allein für rund zwei Drittel der gesamten Ausgaben aller Nato-Staaten stehen. Noch hat das Pentagon keine öffentlichen Pläne zur Erreichung des Fünf-Prozent-Ziels bekannt gegeben. In Den Haag dürfte es trotzdem nicht viele Beschwerden über das Fehlen eines amerikanischen Plans geben.

Die Aufsteiger

Den wohl deutlichsten Kurswechsel vollzieht Deutschland. Zumindest auf dem Papier. Das Zwei-Prozent-Ziel wurde 2024 erstmals erfüllt, allerdings zwei Jahre später, als vom damaligen Kanzler Olaf Scholz im Zuge der „Zeitenwende“ versprochen. Für das vergangene Jahre meldete Berlin nun Ausgaben in Höhe von 90,6 Milliarden Euro, das entspricht 2,1 Prozent des BIP.

Aber die Zahl ist mit Vorsicht zu betrachten. Um die Zwei-Prozent-Marke zu erreichen, griff man zu einigen Buchhaltungstricks. So beläuft sich der reguläre Verteidigungshaushalt für 2024 auf nur 52 Milliarden Euro. Hinzu kommen 19,8 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen, dem vorübergehenden Schuldenposten außerhalb des Haushalts in Höhe von 100 Milliarden Euro. Weitere 7,5 Milliarden fließen direkt in die Unterstützung der Ukraine. Damit verbleibt ein Betrag von 11,4 Milliarden Euro, dessen Zusammensetzung die Regierung als Verschlusssache eingestuft hat und vage als Maßnahmen in anderen Teilen des Bundeshaushalts bezeichnet, „die ebenfalls zur Verteidigungsfähigkeit beitragen“.

Vertrauliche Unterlagen des Bundesfinanzministeriums zeigen, was alles in diesen elf Milliarden Euro enthalten ist. Darunter fallen die Kosten für die Flugbereitschaft der Bundesregierung, die die Kanzlerin und die Minister für ihre Reisen nutzen, Pensionszahlungen für ehemalige Angehörige der Nationalen Volksarmee der DDR oder Mittel für den Wiederaufbau in Kriegsgebieten aus dem Entwicklungsministerium. Das Budget für den Bundesnachrichtendienst, den deutschen Auslandsgeheimdienst, wird ebenso berücksichtigt wie die Mitgliedsbeiträge Deutschlands an die Vereinten Nationen.

Es bleibt abzuwarten, wie die neue Bundesregierung mit den Verteidigungsausgaben und dem künftigen Nato-Ziel von fünf Prozent umgehen wird. Die Haushalte für das laufende Jahr 2025 und für 2026 werden erst im Sommer vorgelegt und im Herbst vom Bundestag verabschiedet.

Auch das neue Nato-Mitglied Schweden stockt seine Verteidigungsausgaben massiv auf. Das Land hat wie Deutschland seine Schuldenregeln gelockert, um mehr Spielraum zu haben. Die Veränderung erlaubt Stockholm bis 2035 umgerechnet rund 27 Milliarden Euro an zusätzlichen Ausgaben. Anschließend soll das Geld aus dem regulären Haushalt kommen.

Die Verteidigungsausgaben stiegen von 1,5 Prozent des BIP im Jahr 2023 auf 2,1 Prozent im Jahr 2024. Auch bei Schweden lohnt ein genauer Blick auf die Zusammensetzung. Das Parlament beschloss 2024 ein auf drei Jahre angelegtes Ukraine-Hilfspaket von mehr als zwei Milliarden Euro. Diese Unterstützung machen aktuell einen wichtigen Teil der höheren Ausgaben aus. Ab diesem Jahr sollen die Ukraine-Hilfen dann separat ausgewiesen werden.

Neben Flugabwehr investiert Schweden das zusätzliche Geld vor allem in die Marine, wo das Land in den kommenden Jahren eine wichtige Rolle in der Nato spielen soll. Stockholm hat außerdem Taurus-Marschflugkörper und Leopard-Panzer in Deutschland bestellt.

Auch Großbritannien und Frankreich liegen über zwei Prozent, mussten dafür aber nicht so deutlich aufholen wie viele andere Länder. Auf dem Weg in Richtung fünf Prozent werden die beiden einzigen europäischen Atommächte allerdings vor großen Herausforderungen stehen. Das britische Verteidigungsbudget stieg von 2,2 Prozent des BIP im Jahr 2023 auf 2,3 Prozent im Jahr 2024, wobei neben Ausgaben für Forschung und Entwicklung auch die Kosten für größere Operationen aufgrund der Unterstützung für die Ukraine stark anstiegen.

Premierminister Keir Starmer hat versprochen, die Ausgaben bis 2026 auf 2,6 Prozent zu erhöhen – unter anderem durch die Einbeziehung der Geheimdienste in die Berechnung. Allerdings hat er noch keinen Weg aufgezeigt, wie er die Marke von drei Prozent erreichen will – geschweige denn die von fünf Prozent, die vor dem Nato-Gipfel im Raum stehen.

Frankreich hat seit dem Amtsantritt von Emmanuel Macron im Jahr 2017 seine Verteidigungsausgaben stetig erhöht und schaffte im vergangenen Jahr das Zwei-Prozent-Ziel. Allerdings ist Frankreich eines der am höchsten verschuldeten EU-Länder und die öffentlichen Finanzen sind in einem desolaten Zustand. Es ist aktuell unklar, wie die französische Regierung zusätzliche Mittel für das Militär aufbringen will, um das Fünf-Prozent-Ziel zu erreichen, zumal Macron Steuererhöhungen ausgeschlossen hat.

Die Nachzügler

Mehrere strategisch wichtige Länder haben noch nicht einmal das Zwei-Prozent-Ziel erreicht – insbesondere Kanada, Spanien und Italien. Alle drei haben kürzlich zugesagt, aufzuholen, aber politische Rücksichten, Buchhaltungstricks und historische Gewohnheiten bremsen die Staaten. Der Weg von zwei Prozent zum Fünf-Prozent-Ziel ist weit.

Kanada gibt derzeit nur 1,4 Prozent seines BIP für Verteidigung aus und weist erhebliche Ausrüstungslücken in allen Bereichen seiner Streitkräfte auf. Der neue Premierminister Mark Carney versprach jüngst, „in diesem Haushaltsjahr“ zwei Prozent erreichen zu wollen. Zuvor war dieses Ziel noch auf das Jahr 2029 verschoben worden.

Kanada vertraute lange Zeit auf die Verteidigungsgarantien der USA und priorisierte Ausgaben für Soziales und Klimaschutz. Carney stellt nun die Aufrüstung als Frage der Souveränität dar, angesichts der Drohungen Donald Trumps, Kanada annektieren zu wollen. Aber die Umsetzung nach jahrzehntelangem Zögern erfordert ähnlich wie in Deutschland eine rasche Aufstockung der Beschaffungs- und Industriekapazitäten.

Spanien bleibt mit nur 1,3 Prozent des BIP im Jahr 2024 der Nato-Mitgliedstaat mit den niedrigsten Verteidigungsausgaben (abgesehen von Island, das keine Armee hat). Premierminister Pedro Sánchez hat zwar einen elf Milliarden Euro schweren Plan zur Modernisierung des Militärs vorgelegt, mit dem in diesem Jahr zwei Prozent erreicht werden sollen. Es ist die ehrgeizigste Verteidigungsstrategie des Landes seit Jahrzehnten.

Der Premier ist jedoch durch seine Regierungskoalition eingeschränkt. Die linken Verbündeten lehnen eine Aufstockung des Militärbudgets ab. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten des aktuell boomenden Landes sind zwar vorhanden, aber es fehlt der politische Wille. In den Tagen vor dem Gipfel schrieb Sánchez sogar einen Brief an Nato-Generalsekretär Mark Rutte, in dem er ein mögliches Fünf-Prozent-Ziel ausdrücklich ablehnte.

Italien lag im vergangenen Jahr bei 1,5 Prozent des BIP und auch Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gab das Ziel aus, dass die Regierung das Zwei-Prozent-Ziel in diesem Jahr erreichen wolle. Aber es mehren sich die Anzeichen, dass dies eher durch kreative Buchführung als durch echte Ausgabenerhöhungen erreicht werden könnte.

Rom versucht deshalb auch zu bremsen, wenn es um das Fünf-Prozent-Ziel geht und fordert, dass die Nato-Staaten ein Jahrzehnt Zeit bekommen, um es zu erreichen. Außerdem möchte Rom, dass zivile Infrastrukturprojekte – wie etwa die geplante Brücke nach Sizilien – bei der Berechnung der Ausgaben für verteidigungsrelevante Infrastruktur anerkannt werden. Angesichts einer hohen Verschuldung und des starken Drucks im Land, bei Renten und Sozialleistungen nicht zu kürzen, bleibt Verteidigung ein politisch sensibles Thema.

Mitarbeit: Jacopo Barigazzi, Laura Kayali, Jack Detsch

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