Ungewöhnlich deutlich hat Brüssel das Vorgehen Israels in Gaza, dem Westjordanland und Ostjerusalem kritisiert. Es verstoße gegen festgelegte Grundsätze für eine enge Zusammenarbeit mit der EU, heißt es in einem Prüfbericht des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD), der am Montag bei einem Treffen der 27 EU-Außenminister in Luxemburg vorgelegt wurde.

Im Mai hatten 19 Staaten EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas – gegen den Willen Deutschlands, Italiens und Ungarns – aufgefordert zu untersuchen, ob sich Israel an die Verpflichtungen aus dem sogenannten Assoziationsabkommen mit der EU hält. Das Abkommen ist seit dem Jahr 2000 in Kraft und regelt die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Israel und der EU.

Laut Prüfbericht verstößt die Politik Israels insbesondere im Gaza-Streifen gegen Artikel 2 des Abkommens, der regelt, dass die Politik beider Seiten auf dem „Respekt für Menschenrechte und demokratische Prinzipien“ basieren muss.

Hintergrund ist vor allem, dass Israel seit Monaten kaum noch Lieferungen von Nahrung und Medikamenten in den Gaza-Streifen zulässt, in dem rund zwei Millionen Palästinenser leben. Israel begründet sein Vorgehen damit, dass die islamistische Terrororganisation Hamas von den Lieferungen der Hilfsgüter profitiere. Inzwischen hat eine offiziell private Stiftung die Auslieferung von humanitären Gütern übernommen.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass „es Hinweise gibt, dass Israel die humanitären Verpflichtungen brechen würde“. Israels Blockade des Gaza-Streifens für Hilfsgüter bedeute, dass „eine halbe Million Menschen Hunger leide“. Die Analyse des EAD, der die Zustimmung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen haben dürfte, kritisierte auch die „willkürlichen Attacken“ durch „schwere Waffen, einschließlich Bombardements aus der Luft, auf Orte, wo Zivilisten Schutz suchen“.

Zudem bemängelt der Bericht den Tod von Journalisten, „die in großer Zahl getötet wurden, möglicherweise weil sie direkt angegriffen wurden“. Das sei wahrscheinlich der „bewusste Versuch seitens Israel den Informationsfluss nach und von Gaza zu begrenzen und Berichte über die Folgen der Angriffe zu verhindern“.

Über die Angriffe von Israelis auf Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem sowie die Siedlungspolitik Israels spricht der EU-Report in Anlehnung an den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag von „rassistischer Segregation und Apartheid“. Der Bericht stützt sich bei seinen Bewertungen maßgeblich auf Erkenntnisse des ICJ und des Hochkommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte.

Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen bei ihrem Gipfeltreffen am Donnerstag und Freitag dieser Woche erstmalig über den brisanten Bericht beraten. Welche Folgen die Analyse aus Brüssel hat, ist völlig offen. Die EU ist mit Blick auf Israel und das Vorgehen des Landes gegenüber den Palästinensern tief gespalten. Zahlreiche EU-Regierungen hoffen, dass der Bericht allein schon ausreicht, um Druck auf Israel auszuüben und Hilfsgütertransporte bald wieder in großen Stil zugelassen werden.

Sollte dies nicht der Fall sein, dürfte sich eine Entscheidung über die Folgen des Prüfberichts noch Monate hinziehen. Ein ganzer Strauß an Maßnahmen wäre denkbar. Gegen bestimmte israelische Minister wären Sanktionen wie Einreisesperren in die EU möglich.

Aussetzung des gesamten Abkommens ist unrealistisch

Es könnten aber auch Teile des Abkommens, wie Zollerleichterungen für israelische Güter oder Forschungsförderprogramme, vorübergehend ausgesetzt werden. Dazu wäre lediglich eine qualifizierte Mehrheit der EU-Länder nötig.

Letztlich wäre aber auch möglich, das gesamte Assoziationsabkommen auszusetzen – dazu wäre allerdings Einstimmigkeit erforderlich, was unrealistisch ist, weil einige Staaten wie Ungarn oder Tschechien Israel vorbehaltlos unterstützen.

Unterdessen hat die EU-Kommission am Montag weitere 202 Millionen Euro für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNWRA) bereitgestellt. Insgesamt sollen bis zum Jahr 2027 rund 1,6 Milliarden Euro an Finanzhilfen für palästinensische Flüchtlinge im Gaza-Streifen, Westjordanland, Libanon, Syrien und Jordanien fließen.

Bei ihrem Treffen in Luxemburg haben die EU-Außenminister einen Tag nach den US-Angriffen auf die wichtigsten Atomanlagen im Iran Teheran zu direkten Gesprächen mit Washington aufgerufen. „Wir brauchen eine Verhandlungslösung, sie ist dringender als je zuvor“, sagte Außenminister Johann Wadephul (CDU) am Montag bei einem Treffen mit seinen Kollegen in Brüssel.

Auch die EU-Außenbeauftragte Kallas mahnte eine diplomatische Lösung an. Sie rief dazu auf, die Gesprächskanäle mit dem Iran offenzuhalten. „Wir müssen das am Laufen halten, denn für eine langfristige Perspektive brauchen wir am Ende eine diplomatische Lösung“, sagte die EU-Chefdiplomatin.

Angesichts der US-Intervention wächst die Sorge vor einer weiteren Eskalation. „Die Bedenken, dass sich dieser Krieg ausweitet, sind enorm“, sagte Kallas. Sie warnte den Iran insbesondere vor einer Sperrung der für den Handel wichtigen Seestraße von Hormus. Ein solcher Schritt wäre „extrem gefährlich und für niemanden gut“, mahnte die Außenbeauftragte.

Die Straße von Hormus verbindet den Persischen Golf mit dem Golf von Oman, dem Arabischen Meer und dem Indischen Ozean. Rund ein Fünftel der weltweiten Ölproduktion wird täglich über diese Handelsroute transportiert. Die Sperrung gilt aber als unwahrscheinlich: Damit würden Territorialrechte des mit Iran verbündeten Sultanats Oman verletzt.

Außerdem würde der Iran einer seiner wichtigsten Unterstützer, China, gegen sich aufbringen, weil Peking ebenfalls von den Öltransporten durch die Meerenge profitiert. Hinzu kommt, dass Teheran mit einem solchen Schritt selbst wichtige Einnahmen aus dem Ölexport verloren gingen.

Wahrscheinlicher ist deshalb, dass die jemenitischen Huthi-Rebellen, die von Teheran seit Jahren unterstützt werden, im Roten Meer ihre Angriffe auf westliche Schiffe wieder verstärken. Die Huthi-Rebellen, so heißt es in Diplomatenkreisen, könnten damit versuchen, sich in den Augen der arabischen Welt zu profilieren.

Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.

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