Die 1984 in Rostock geborene Journalistin und Autorin Katharina Höftmann Ciobotaru lebt seit 2010 in Israel. Über Instagram lernt sie 2022 den jungen Iraner Sohrab Shahname kennen, der viele Jahre als Fotograf für iranische Zeitungen und Nachrichtenagenturen gearbeitet hat. Nach dem 7. Oktober 2023 beginnen beide eine Brieffreundschaft. Für den Iraner ist das lebensgefährlich, er arbeitet unter einem Pseudonym. Das Buch „Über den Hass hinweg. Briefe zwischen Tel Aviv und Teheran“ dokumentiert den Briefwechsel, WELT veröffentlicht Auszüge daraus.

Tel Aviv, 26. Januar 2024

Sohrab,

ich habe jeden der Orte gegoogelt, die du so schön und detailliert beschrieben hast, habe mir Fotos und historische Hintergrundinformationen angesehen. Und dabei kam mir ein Gedanke: Alle Informationen stehen zur Verfügung in der Welt, man kann alles googeln und trotzdem hätte ich nie von dem Turm in Teheran gewusst, der wie ein Mann ohne Hut aussieht, oder von dem Basar, der dem in der Altstadt von Jerusalem so ähnlich sieht. Oder von der längsten Allee im Nahen Osten, denn ich wüsste nicht einmal, wonach ich suchen sollte. Egal, wie ausgeklügelt unsere technischen Mittel auch sein mögen, die KIs, die Googles und die Chatsysteme – nichts geht über den Menschen. Vor allem, wenn es um das Erzählen von Geschichten geht. Und es gibt wenig, was mich mehr begeistern kann als eine gute Geschichte. Du hast mir gleich drei erzählt, und dafür bin ich dir sehr dankbar.

Wir Menschen erzählen einander Geschichten, seit es uns gibt. Durch Geschichten lernen wir, sehen die Welt und fühlen, was in ihr passiert. Durch Geschichten stellen wir eine Verbindung zueinander her, zeigen einander, wer wir sind. Ganz gleich, an welchem Ort oder zu welcher Zeit man lebt: Es war immer so und wird immer so sein, dass wir Menschen durch das Erzählen ein Miteinander erschaffen. Durch das Teilen von Gefühlen, Geheimnissen, Ängsten und Erfahrungen. Ich habe diese Woche meinem Freund, meiner Mutter und meiner besten Freundin von dir und unseren Briefen erzählt, und dann habe ich mir gedacht, dass du wahrscheinlich niemandem davon erzählen kannst. Und das hat mich irgendwie traurig gemacht. Denn das ist es, was Kriege und Hass den Menschen essentiell rauben: zu teilen. Miteinander zu sein. Menschlich zu sein.

Ich denke in diesen Tagen viel über den Krieg nach. Ich habe hier in Israel schon einige Kriege miterlebt, aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass der aktuelle Krieg ein Teil von mir geworden ist. (Seite 16)

Teheran, 1. Februar 2024

Als ich ein Kind war, war es gefährlich, im Taxi oder im Bus über die Mullahs zu sprechen, aber je schlimmer die Situation wird, desto wütender werden die Leute und beschimpfen sie sogar in der Öffentlichkeit. Angst haben trotzdem alle. Denn das ist es ja, was so eine Diktatur am Ende mit einem macht: Weil sie so unberechenbar ist, lebt man permanent mit latenter Angst. Diese ständige Unsicherheit macht mich oft fertig. Sie ist sicherlich auch einer der Gründe, warum ich an Panikattacken leide.

Die Geschichte, die du über deine Eltern in Ostdeutschland erzählt hast, hat mich schockiert! Auch im Iran habe ich solche Dinge gehört, besonders über berühmte Aktivisten, die unter Beobachtung stehen. Aber etwas an der Situation im Iran ist noch viel schlimmer. Deine Eltern zum Beispiel fanden ihre Freiheit im Kleinen, wie darin, nackt am Strand zu sein, aber im Iran gibt es nicht einmal das. Alkohol ist verboten, nackt an den Strand zu gehen, ist verboten, sogar Nacktfotos zu veröffentlichen (selbst wenn es sich dabei um Kunst handelt), ist gefährlich.

Das erinnert mich daran, dass ich nach dem Tod meines Vaters vor ein paar Jahren zwölf Monate lang Aktporträts von mir selbst machte und dafür eine private Website erstellte. Vielleicht war das mein Weg, zu mir selbst zurückzufinden nach diesem Schicksalsschlag. Als jedoch 2022 die Proteste der Women-Life-Freedom-Bewegung begannen, bekam ich es mit der Angst zu tun und löschte die Seite. Noch immer ist es brandgefährlich, ohne Hidschab auf die Straße zu gehen – auch wenn die Gefahr nach den Protesten etwas kleiner geworden ist. Seitdem sich immer mehr Frauen den strengen Kleidervorschriften widersetzen und seitdem ihnen auch immer mehr Männer beistehen. Derzeit konzentriert sich die Regierung vor allem darauf, Frauen das Autofahren zu verbieten, wenn sie ohne Hidschab unterwegs sind! Sie werden dreimal per SMS gewarnt, und wenn sie dann immer noch ohne Kopftuch fahren, wird ihr Fahrzeug gesperrt. (Seite 39)

Tel Aviv, 14. März 2024

Mein lieber Freund,

endlich schreibe ich dir wieder.

Heute ist es sehr sonnig in Tel Aviv. Es ist schon seit ein paar Tagen frühlingshaft. Ich spüre die Sonne auf meinem Rücken, während ich dir schreibe. Und doch sind mein Herz und meine Seele noch damit beschäftigt, sich von der letzten Woche zu erholen.

Ich bin nach Berlin gefahren, um auf einem Podium über Vergewaltigung als Kriegswaffe zu sprechen. Was für ein unmögliches Unterfangen. Und warum ich? Bei meinem Vorbereitungsgespräch mit der Moderatorin fragte sie mich: „Nur damit ich Sie besser vorstellen kann, würde ich gerne wissen: Was genau ist Ihr Fachwissen zu diesem Thema?“ Ich schwieg einen Moment lang. Die anderen drei Frauen auf dem Podium waren zwei Aktivistinnen, die seit Jahren in der Ukraine und im Kongo in diesem Bereich tätig sind, und eine sehr bekannte deutsche Politikerin. Und dazwischen ich. Was ist mein Fachwissen über Vergewaltigung als Kriegswaffe?

Ich beschloss, ihr ehrlich zu antworten: „Vor dem 7. Oktober war das ein Thema, mit dem ich nicht wirklich viel zu tun hatte. Natürlich habe ich darüber gelesen, als es in den Kriegen in Ruanda oder Bosnien Vergewaltigungen gab. Und ich weiß, dass meine Großmutter höchstwahrscheinlich am Ende des Zweiten Weltkriegs von Soldaten der Roten Armee vergewaltigt wurde, wie viele andere deutsche Frauen auch. Aber das war’s auch schon. Darüber hinaus habe ich nie zu dem Thema recherchiert, und abgesehen davon, dass ich es für eine Nebenhandlung in meinem Roman Alef verwendet habe, habe ich auch während meiner Arbeit nie wirklich damit zu tun gehabt.

Das änderte sich schlagartig am 7. Oktober. Denn an diesem Tag sahen wir, wie israelisch-jüdische Frauen vor den Augen der Welt vergewaltigt wurden. Und wir wissen, dass dies immer noch jeden Tag mit unseren Geiseln geschieht. Systematische sexuelle Gewalt wird auf diese Weise eingesetzt, um ganze Völker zu terrorisieren. Es handelt sich dabei um eine bewusste Taktik der Kriegsführung. Jede jüdisch-israelische Frau wusste am 7. Oktober und danach, dass auch sie damit gemeint war. Wenn ich zum Nova-Festival gegangen wäre, hätte es mich genauso getroffen. Jetzt ist es also auch mein Thema. Und ich werde recherchieren und darüber sprechen, so oft es geht, damit die Leute nicht leugnen können, dass es passiert ist.“ (Seite 77)

Teheran, 14. April 2024

Der iranische Dichter Saadi sagte dies vor etwa 700 Jahren, und jetzt schreibe ich dir diese Worte. Sie bedeuten: Ich werde mich an die Nacht erinnern, in der ich meine Augen nicht schließen konnte, um zu schlafen. Ich war bis 03:30 Uhr morgens (nach Teheraner Zeit) wach. Was du jetzt liest, ist mein Protokoll aus einer Nacht, die für den Iran und Israel unglaublich beängstigend war. Wenn ich Iran sage, dann meine ich das iranische Volk, nicht die Regierung, den Staat oder das Regime. Sie gehören nicht zu uns.

00:15 Uhr: Ich habe beschlossen, diesen Brief an dich zu schreiben, während mein Handy anzeigt, dass es hier 00:15 Uhr ist und in Tel Aviv 23:39 Uhr. Wir haben einen zeitlichen Abstand von etwa 30 Minuten, aber unsere Länder sind einander so nah wie nie zuvor.

Auf Instagram lese ich die Nachrichten vom Abschuss iranischer Drohnen. Mein ganzer Körper zittert, während ich einen tiefen Zug von meiner Zigarette nehme. Ich bekomme immer Schüttelfrost, wenn ich sehr angespannt bin. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal, als ich jemandem meine Liebe gestehen wollte, zwei Decken über mich zog und zitterte, während es draußen 40 Grad warm war! Aber dieses Mal handelt es sich nicht um eine Liebesgeschichte. Das hier ist eine Geschichte der Gefahr. Kurze Zeit später gehen mir die Zigaretten aus, und ich höre umso verzweifelter die Nachrichten im Radio.

Im Radio heißt es, dass die Drohnen in zwei Stunden in Israel eintreffen werden und dass die Raketen ebenfalls abgefeuert worden sind. Der Radiomoderator spricht über die Dummheit von Ali Khamenei. Ich stimme ihm zu. Was der iranische Staatschef getan hat, war der Anfang seines Endes. Ähnlich wie das, was Saddam Hussein im Zweiten Golfkrieg mit dem Angriff auf Kuwait tat und womit er das Ende seiner Herrschaft weniger als 20 Jahre später auslöste.

00:30 Uhr: Ich habe meinen Laptop und mein Telefon aufgeladen, damit ich, falls etwas passiert, Zugang zu meinen Kommunikationsmitteln habe. Ich schalte den Fernseher ein und schaue den Sender Iran International, einen der wichtigsten Fernsehsender der Opposition. Sie zeigen Livebilder aus Jerusalem, Tel Aviv, Süd- und Nordisrael. (Seite 128)

Tel Aviv, 30. Mai 2024

Nach dem 7. Oktober schwand die Sympathie für die israelischen Opfer schnell. Mit jedem Tag, an dem der israelische Krieg gegen die Hamas weitergeht, mit jedem Tag, an dem Zivilisten in Gaza sterben, wird die Atmosphäre für Israelis und Juden feindseliger.

Ich liebe Social Media, das tue ich wirklich. Ich finde, es ist eine großartige Möglichkeit, sich zu vernetzen und Inhalte zu teilen. Und ganz ehrlich, die Liebe und Unterstützung, die ich seit dem 7. Oktober in den sozialen Medien erfahren habe, übersteigt den Hass, den ich erlebte. Aber andererseits bin ich auch sehr streng, ich wähle genau aus, wem ich folge. Und welche Inhalte ich mir nur selten und dann ganz bewusst ansehe, wenn ich innerlich dazu bereit bin, Propaganda zu ertragen. Ich versuche, mich immer wieder daran zu erinnern, dass Social Media nicht das wahre Leben ist, sondern eher eine überspitzte Version der Realität.

Die Menschen sind auf ihren Plattformen hübscher, aber auch gemeiner. Letztendlich ist es für mich, da viele meiner Freunde in anderen Ländern leben als ich, eine gute Möglichkeit, ihr Leben zu verfolgen. Und ich meine, ohne Social Media hätte ich ja auch dich nicht getroffen, und wir würden dieses Buch oder unsere Briefe nicht schreiben. Aber es muss Gesetze und Grenzen dafür geben, wie Social Media betrieben werden darf. Die Leute sagen immer, dass es mit Social Media keinen Holocaust gegeben hätte, aber das ist völlig illusorisch. Social Media wäre für die Nazis das ideale Tool gewesen. So hätten sie ihre Propaganda noch viel schneller und weltweit verbreiten können.

Die Wahrheit ist, dass das Böse immer einen Weg findet. Die Nazis hatten Plakate, Filme und Radio, und das reichte aus, um eine ganze Nation zu vergiften. Ich möchte auch, dass dieser Krieg endlich endet. Ich frage mich nur manchmal, ob sich diese Leute, die so leichtfertig von ihren sicheren Sofas irgendwo in der sicheren Welt aus problematische Inhalte teilen, bewusst sind, dass dieser Krieg für einige Menschen real ist.

Dass er Teil unseres Lebens ist und nicht irgendein niedlicher Instagram-Aktivismus zwischen einem Post über Yoga-Outfits und neusten Rezepten.

Ich sende dir all meine besten Wünsche, deine Freundin Nina (Seite 186)

Die Texte wurden auszugsweise übernommen aus dem Buch „Über den Hass hinweg. Briefe zwischen Tel Aviv und Teheran“. Es ist im Blessing-Verlag der Penguin Random House Gruppe erschienen.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.