Bodo Ramelow, 69, ist Bundestagsvizepräsident. Der Linke-Politiker war mit kurzer Unterbrechung von 2014 bis 2024 Ministerpräsident von Thüringen. Im September 2025 zog er in den Bundestag ein.

WELT: Herr Ramelow, Sie sind nach 20 Jahren in den Bundestag zurückgekehrt. Es war damals eine andere Welt. Welche Unterschiede finden Sie am gravierendsten?

Bodo Ramelow: Die Hauptstadt kommt mir heute sehr hart und aggressiv vor. Berlin hat sich verändert, leider nicht zum Besseren. Das tut mir weh. Unter jeder Brücke liegen nachts Menschen. Der öffentliche Verkehr ist ständig kaputt, der Ton extrem rau. Wenn ich mit jungen Menschen spreche, muss ich dreimal nachfragen, in welcher Welt die sich eigentlich bewegen – und andersrum. Das zeigt sich auch im politischen Austausch.

WELT: Inwiefern?

Ramelow: Die starke Präsenz der AfD im Bundestag hat das Klima verändert. Das trifft mich auch persönlich. Es gibt Situationen, da muss ich meine Seele schützen. Ich habe keine Lust mehr, jeden Tag eine Stunde lang Leute im Internet zu blockieren, weil sie mich beleidigen oder mir den Tod wünschen. Ich habe immer viel weggesteckt, aber wenn es um die Familie geht, wird es unerträglich.

WELT: Die sozialen Medien haben politische Kommunikation völlig verändert. Viele Politiker hadern damit. Sie auch?

Ramelow: Zu glauben, man brauche nur noch einen TikTok-Kanal mehr, löst das Problem nicht. Meine Partei, die Linke, war der Überraschungsstar der Bundestagswahl, weil wir TikTok bedient haben. Aber TikTok zu bedienen, war nicht mehr meine Arbeit: Das waren junge Leute, die das mit mir und für mich gemacht haben. Ich hatte Vertrauen und habe mich drauf eingelassen, aber gewollt habe ich es nicht. Diese Form der Präsentation ist nicht meine Welt.

WELT: Das klingt resigniert.

Ramelow: Nein, ich gebe nicht auf. Aber es muss sich was ändern. Wir müssen die Verhärtungen und geschlossenen Räume durchbrechen. Deutschland braucht mehr direkte Demokratie, mehr Volksabstimmungen. Die panische Angst, dass eine Volksabstimmung schlechte Stimmung auslösen könnte, führt dazu, dass die schlechte Stimmung immer schlechter wird. Ich sage: mehr Mut.

WELT: Der Politologe Ivan Krastev beschreibt das Verhalten von rechtsradikalen Parteien in Europa mit der Fußball-Hooligan-Kultur. Es gehe um Emotionen, um bedingungslosen Einsatz für das eigene Team, bis hin zur Gewalt. Wie kann man dem begegnen?

Ramelow: Die Frage ist, ob wir das zulassen. Der Bundestagswahlkampf etwa wurde teils völlig faktenfrei geführt: Auch in Thüringen ging es um die Abschiebung von Ausländern und „Messermännern“. Ich will da nichts verharmlosen, aber bei acht Prozent Nichtdeutschen in Thüringen haben wir ganz andere Probleme. Wir brauchen dort organisierte Zuwanderung.

Ich habe das als Ministerpräsident auf den Weg gebracht. Wir haben junge Vietnamesen in Thüringer Ausbildungen. Eine gute, ruhige Stimmung. Das können wir sicher auch mit Tunesien, Marokko, Algerien. Wir würden den Schreihälsen, die überhaupt keine Fremden kennen und nur mit tiefem Misstrauen unterwegs sind, den Boden entziehen. Die AfD würde in einer Volksabstimmung merken, dass sie nicht für die schweigende Mehrheit spricht.

WELT: Als Vizepräsident des Bundestags leiten Sie nun Sitzungen. Was erleben Sie?

Ramelow: Der Ton ist oft vergiftet. Die Härte gibt es nicht nur bei der AfD. Bisher gelingt es mir, diesem Klima mit Lächeln oder Ironie zu begegnen. Ich erlebe aber auch in der eigenen Fraktion, dass jemand sagt: Ist mir doch egal, dass es Regeln gibt.

WELT: Ihr Fraktionskollege Marcel Bauer flog wegen des Tragens einer Baskenmütze aus dem Plenum, die Abgeordnete Cansın Köktürk wegen eines „Palestine“-Pullovers. War das richtig?

Ramelow: Er wurde gebeten, die Mütze abzusetzen, und ist dem nicht nachgekommen. Deswegen wurde er höflich rausgebeten. Er wird nun im Plenum keine Mütze mehr aufsetzen. Wir haben das im Nachgang besprochen und sind so verblieben, dass er auch nicht möchte, dass irgendein anderer mit einem Stahlhelm reinkommt.

Der Pullover ist mal ganz abgesehen vom Inhalt eine andere Frage: Wir haben keine Kleiderordnung, das Präsidium will auch keine. Was wäre mit einem Pullover, auf dem „USA“ steht? Im Plenarsaal wird mit Worten gekämpft, nicht mit Beleidigungen, nicht mit Herabwürdigungen – und auch nicht mit Zeichen, offen oder verdeckt. Das gilt für alle gleichermaßen.

WELT: In Ihrem Internet-Tagebuch fragen Sie, wie weit die Linke sich von Ihnen entfremdet hat. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Ramelow: Die Frage hat mich sehr umgetrieben. Der Anlass war der Thüringer Landesparteitag. Ich habe mich im Nachgang mit den beiden Vorsitzenden in Thüringen zusammengesetzt, die mich durch die schlimmste Niederlage unserer Landespartei begleitet haben. Wir fangen an darüber zu reden, wo wir uns geirrt haben, wo wir Fehleinschätzungen hatten. Eine Partei, die ihre Mitgliederzahl in so kurzer Zeit verdoppelt hat, muss sich erst noch finden. Mein Text ist deshalb ein Aufbruch, kein Abbruch.

WELT: Die stark angewachsene Linksfraktion posierte zum Auftakt der Legislaturperiode im Paul-Löbe-Haus und skandierte: „Alerta, alerta, antifascista!“ Sie stehen mittendrin, sehen aber nicht euphorisch aus. In Sachsen und Thüringen wiederum sind die CDU-Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und Mario Voigt auf die Linke angewiesen. Wie gehen radikale Pose und Verantwortung zusammen?

Ramelow: Ich habe mich selbst im Thüringer Landtag als Ministerpräsident abgewählt und Mario Voigt gewählt. Nicht, weil ich damit ein Heldenepos schreiben wollte. Sondern, weil ich auch für soliden demokratischen Übergang stehe. Deswegen habe ich mit Michael Kretschmer darüber geredet, wie Sachsen und Thüringen sich wechselseitig begleiten können. Und nun hat die Thüringer Linke es geschafft, mit der „Brombeer“-Koalition einen Landeshaushalt zu verhandeln, der unsere Handschrift trägt. Das zeigt die zwei überlagerten Welten.

WELT: Die Bundes-CDU lehnt eine Zusammenarbeit mit der Linken noch immer strikt ab.

Ramelow: Aber am 6. Mai stand Friedrich Merz da und brauchte uns für einen zweiten Wahlgang zum Bundeskanzler. Alle waren in heller Aufregung. Ich dachte nur: Willkommen in Thüringer Verhältnissen. Das Problem haben wir gemeinsam gelöst. Gemeinsam haben wir das harte Stück Arbeit geleistet zu sagen: Merz ist nicht unser Kanzler, wir werden ihn nicht wählen – aber zu unserem Demokratieverständnis gehört es, dass wir heute noch die Kanzlerwahl ermöglichen. Wir haben die Hand ausgestreckt.

WELT: Aber wie passt das zu dem radikalen Auftreten in Teilen Ihrer Fraktion?

Ramelow: Die junge Partei, die „Alerta, alerta, antifascista“ ruft, ist eingebettet in Demonstrationen und Bewegungen. Der parlamentarische Teil der Fraktion und dieser junge Teil müssen sich erst einmal finden. Viele dieser Jungen waren bis vor Kurzem noch berufstätig. Sie bringen neue Perspektiven mit: Wie bezahle ich meine Miete? Wie die Nebenkostenabrechnung? Diese existenziellen Probleme kennen sie noch, haben die Gesichter der Kollegen noch vor Augen. Eine unserer Abgeordneten arbeitet weiterhin noch Schichten als Krankenschwester.

WELT: Ihre Partei will wieder „organisierende Klassenpartei“ sein, Parteichefin Ines Schwerdtner spricht von „Klassenkampf“. Das klingt anders als Ihre Linie.

Ramelow: Es geht um Klassenkampf der Vermögenden und derer, die völlig aus dem Blick sind. Und das teile ich. Die Politik hat etwa bei den Mieten jahrelang weggeguckt. Ich habe ein Angebot bekommen für ein Ein-Zimmer-Apartment in Berlin: 40 Quadratmeter für 1500 Euro. Das kann sich keine Lidl-Verkäuferin erlauben. Das ist ein Sprengsatz für unsere Gesellschaft. Die, die auf der Straße liegen, sind ein Ausdruck davon. Das ist ein Auseinandersetzen mit Klassenverhältnissen. Wenn ich aber den ganzen Tag nur „Alerta“ und „Klassenkampf“ rufen würde, wäre mir das zu wenig, das brauche ich nicht. Aber wenn wir über den Mietendeckel reden, bin ich dabei.

WELT: Der neue Kurs Ihrer Partei stößt auf viel Kritik. Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sagte etwa: Die Linke sei kein Partner mehr für Jüdinnen und Juden in Deutschland. Hintergrund war ein Beschluss auf dem Linke-Parteitag gegen die IHRA-Antisemitismus-Definition, die von jüdischen Gemeinden weltweit anerkannt wird. Wie sehen Sie das?

Ramelow: Das ist mir bitter aufgestoßen. Ich bin mit dem Zentralrat im Gespräch. Der Beschluss ist überflüssig wie ein Kropf. Mich stört die Art und Weise, wie er zustande kam. Er wurde am Ende des Parteitags als Dringlichkeitsantrag reingepusht. Das hat mir nicht gefallen. Wenn Parteimitglieder keine Distanz zu Hamas oder Huthi-Rebellen haben, bin ich raus. Das ist mit mir nicht zu machen.

WELT: Wie sollte mit jenen Personen in Ihrer Partei umgegangen werden?

Ramelow: Ich habe den Beschluss kritisiert und dafür einen Shitstorm gekriegt: Ich solle die Partei verlassen oder die Fresse halten. Für die Wassermelonen-Fraktion gilt: Wer nur über die Zerstörung Israels reden will, der soll mit mir nicht über Antisemitismus reden. Der soll mit mir nicht über Auschwitz oder Buchenwald reden. Das hat mit Antifaschismus nichts zu tun. Der 7. Oktober 2023 war der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden nach der Shoah. Wer diesen Massenmord ignoriert, ist für mich kein politischer Partner. Gleichzeitig ist meine Kritik an der militärischen Eskalation in Gaza genauso scharf wie am Siedlungsbau. Die Zweistaatlichkeit darf nicht infrage gestellt werden.

Claus Christian Malzahn berichtet für WELT über innenpolitische Themen, insbesondere über die Grünen und ostdeutsche Politik.

Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet seit Jahren über Antisemitismus und Protestbewegungen.

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