Der Wettstreit um die „Reinkarnation“ zwischen dem Dalai Lama und China ist eröffnet. Im Vorfeld seines 90. Geburtstags am vergangenen Wochenende hatte das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus in Dharamsala in einer Rede bestätigt, dass er einen Nachfolger haben werde und die Institution auch nach seinem Tod existieren solle.
Sowohl seine Anhänger als auch Diplomaten hatten mit Spannung erwartet, wie sich der Dalai Lama in dieser Frage positioniert. „Ich versichere, dass die Institution des Dalai Lama fortbestehen wird“, erklärte der 14. Dalai Lama am Mittwoch in der Stadt im Norden Indiens, der Hochburg der tibetischen Exilregierung am Fuße des Himalaja. Die Ankündigung steht im Einklang mit der jahrhundertealten Tradition der „Wiedergeburt“. Der Friedensnobelpreisträger und Vorkämpfer für ein „freies Tibet“ beendet damit Spekulationen um die Frage nach seiner Nachfolge, die zuletzt aufgekommen waren.
„Ich habe entsprechende Bitten von Tibetern in Tibet erhalten. Aber auch von der Diaspora, die sich in der Mongolei, im Rest Chinas und bis nach Europa verstreut hat“, erklärte der Dalai Lama. Zuvor hatte Seine Heiligkeit noch Zweifel an seinen Absichten genährt und angedeutet, dass er der letzte Vertreter der Institution sein könnte, wenn sich das tibetische Volk dies wünsche.
Mit der Ankündigung stellt sich das Oberhaupt der aus dem 16. Jahrhundert stammenden Institution gegen das kommunistische Regime in Peking, das ihn als „dämonischen Separatisten“ diskreditiert und seit Langem dessen Legitimität bei der Wahl seines Nachfolgers infrage stellt. Pekings Kalkül: Mit dem Tod des Dalai Lama die tibetische Frage für sich zu entscheiden und die Sinisierung – also die Angleichung an chinesische Normen – der autonomen Region durchzusetzen.
Peking will Nachfolger selbst bestimmen
1950 hatte die Volksbefreiungsarmee unter der Führung von Mao Tse-tung und der Kommunistischen Partei Chinas Tibet militärisch erobert. Das tibetische Hochland, ist für Peking von zentraler strategischer Bedeutung, unter anderem wegen seiner Grenze zum Rivalen Indien.
Die Volksrepublik führt seit der Okkupation Tibets ein strenges Regiment: Fast eine Million junge Tibeter wurde in öffentliche Internate eingewiesen, wo sie laut einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2023 darauf konditioniert werden, der Kommunistischen Partei (KP) zu gehorchen. Ihre Sprache und kulturelle Identität wird demnach systematisch untergraben.
Das kommunistische Regime der Volksrepublik China ist zwar offiziell atheistisch, beansprucht aber, den Nachfolger des Dalai Lama mittels eines komplexen Verfahrens selbst zu bestimmen. Es beruft sich dabei auf das Verfahren der „goldenen Urne“, das bereits im 18. Jahrhundert unter der Qing-Dynastie eingeführt wurde, um die die Kontrolle über die spirituelle Führung Tibets zu sichern.
Dabei werden die Namen mehrerer potenzieller Reinkarnationen in eine goldene Urne gelegt; anschließend entscheidet das Los. Die chinesische Regierung unterläuft damit die Bestrebungen des im Exil lebenden Oberhauptes der Tibeter, die diese Praxis ablehnen.
Höhepunkt der Auseinandersetzung war die Festnahme des vom Dalai Lama ausgewählten Panchen Lama, der die zweithöchste Autorität im tibetischen Buddhismus darstellt. Chinesische Behörden hatten den sechsjährigen Jungen 1995 als vermisst gemeldet und durch einen eigenen, linientreuen Kandidaten ersetzt. Seitdem ist sein Verbleib ungewiss.
Mit vier Jahren zum Oberhaupt ernannt
Das Oberhaupt Tibets bekräftigte in seiner Ansprache nun, dass nur die Mitglieder des Gaden Phodrang – eines im Exil eingerichteten Rates – befugt seien, die nächste Reinkarnation des Dalai Lama zu bestimmen. „Sie werden die Suche gemäß den traditionellen Verfahren durchführen. Niemand sonst hat das Recht, sich in diese Angelegenheit einzumischen“, warnte der Mönch.
Er selbst wurde im 20. Jahrhundert als Kind als Wiedergeburt ausgewählt. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs klopften Lamas – Mönche und spirituelle Lehrer im tibetischen Buddhismus – an die Tür seiner Eltern in einem armen Dorf in Amdo im Nordosten Tibets und ernannten den 1935 geborenen Jungen im Alter von vier Jahren zum neuen Oberhaupt. 1959 flüchtete er vor den chinesischen Truppen ins Exil in Indien.
International genießt der Dalai Lama hohes Ansehen. Zu seinem 90. Geburtstag am Sonntag feierten ihn Tausende Gläubige, auch Prominente wie US-Schauspieler Richard Gere reisten zu der Zeremonie in einem Tempel in McLeod Ganj im Norden Indiens an. In seiner Geburtstagsbotschaft rief der Dalai Lama die Menschen auf, durch „ein gutes Herz und Mitgefühl“ die Welt zu einem besseren Ort zu machen.
Seine Ankündigung über seine Nachfolge ist als Schlag gegen die Supermacht Chinas zu werten. Peking verurteilte so auch umgehend die Erklärung des Dalai Lamas, dessen Name und Darstellung in dem Land streng zensiert werden.
„Die Reinkarnation des Dalai Lama muss im Einklang mit den chinesischen Gesetzen und Vorschriften, den religiösen Ritualen und historischen Bräuchen stehen“, erklärte die Sprecherin des Außenministeriums bei einer Pressekonferenz in Peking. Diese müsse nach einer Auslosung von der Zentralregierung genehmigt werden. Die chinesische staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nannte die Ankündigung des Dalai Lamas „absurd“ und warf ihm vor, „den Reinkarnationsprozess zu seinen eigenen Gunsten manipulieren zu wollen“.
„Geopolitik der Reinkarnation“
Im Exil in Dharamsala fürchtet man derweil den baldigen Tod des weltweit verehrten geistlichen Oberhauptes. „Die Chinesen stellen den Dalai Lama als Dämon dar – und sind nun besessen von seiner Wiedergeburt“, sagt Tenzin Lekshay, Sprecher der tibetischen Exilregierung in Dharamsala, gegenüber „Le Figaro“.
Das Handeln Pekings sei eine Farce, die sechs Millionen Tibeter, von denen mehr als 150.000 Menschen im Exil leben, könnten nicht von einem staatlich bestimmten Nachfolger überzeugt werden. „Warum kümmern sie sich stattdessen nicht um die Wiedergeburt von Mao oder Deng Xiaoping?“, so der Sprecher.
Auch in den großen Hauptstädten von Washington bis Neu-Delhi wird der Streit um die „Geopolitik der Reinkarnation“ aufmerksam verfolgt, entscheidet sie doch über die Zukunft der tibetischen Identität. Im vergangenen Jahr wurde der erkrankte Dalai Lama noch in den USA behandelt.
Die Rückkehr von US-Präsident Donald Trump ins Weiße Haus überschattet jedoch die Aussichten der Exilregierung, die auf westliche Hilfen angewiesen ist. Kurzzeitig war sie etwa betroffen von den Kürzungen bei der US-Entwicklungshilfe USAID.
Am Wochenende drückte US-Außenminister Marco Rubio aber öffentlich seine Unterstützung für den gewaltlosen Kampf der Tibeter gegen Peking aus. Die USA seien entschlossen, die Achtung „der Menschenrechte und Grundfreiheiten der Tibeter zu fördern“.
Dieser Text erschien zuerst bei „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (LENA).
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