Jetzt, wo alle in die katarische Hauptstadt Doha fahren, um mit der Hamas zu verhandeln, muss Deutschland mehr tun, als Verständnis und Mitleid zu zeigen – wir brauchen zusätzlichen Schub, damit es einen Deal gibt“, sagt Liran Berman. Der 36-Jährige ist aus dem Norden Israels nach Berlin gereist, um sich für seine Brüder Ziv und Gali einzusetzen, die seit mehr als 600 Tagen von der Terrormiliz Hamas im Gaza-Streifen festgehalten werden. Und er traut der Bundesregierung zu, dass sie etwas für die Freilassung der beiden jungen Männer unternehmen kann.

Er verlangt es geradezu, denn die beiden, deren Vorfahren aus Berlin und Dessau stammen, besitzen neben der israelischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. „Donald Trump hat der Hamas gedroht und konnte dadurch den US-Israeli Idan Alexander freibekommen“, erinnert Berman. „Natürlich ist Deutschland nicht Amerika. Aber Berlin sollte sich endlich laut und ausdrücklich für die Freilassung der Geiseln mit deutscher Staatsbürgerschaft einsetzen.“

Während Israels Premierminister Benjamin Netanjahu sich in Washington mit der Trump-Administration berät und seine Unterhändler in Katar indirekte Gespräche mit der Hamas führen, sind die Angehörigen von sechs Geiseln mit israelischer und deutscher Staatsbürgerschaft nach Berlin gereist. Sie haben Hoffnung, dass die Chancen auf eine Einigung gewachsen sind – jetzt, da die Hamas durch Israels Streitkräfte dezimiert wurde und nach den weitreichenden Bombardements im Iran.

Aber dennoch fordern sie, dass sich die Bundesregierung gezielt für ihre Angehörigen und die anderen noch verbliebenen 13 Geiseln mit deutschen Pässen einsetzt. Bisher forderte Berlin stets die Freilassung aller Geiseln der Hamas, ohne explizite Erwähnung der Deutschen unter ihnen. „Die Angehörigen verstehen diese Zurückhaltung“, sagt Politikberaterin Melody Sucharewicz, die die Reise organisiert hat. „Aber viele wollen, dass Berlin sich auch gezielt für die eigenen Staatsbürger einsetzt.“

Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe

Bei ihrem Besuch in der Bundeshauptstadt hat die Gruppe der Angehörigen hochrangige Gesprächspartner getroffen, darunter Außenminister Johann Wadephul, Bildungsministerin Karin Prien, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner und den Sicherheitsberater des Bundeskanzlers Günter Sautter. „Alle scheinen verstanden zu haben, dass jetzt eine sehr entscheidende Zeit angebrochen ist“, sagt Berman später vor Journalisten. Das gelte auch für das Leben der Geiseln. „Irgendwann lebt keiner mehr, den man noch austauschen kann. Und auch, was von den Toten geblieben ist, verschwindet auf Dauer.“

Schachar Ohel hofft darauf, seinen Neffen Alon lebend wiederzusehen. „Er ist so ein begabter Pianist“, erzählt er. „Noch am Schabbat-Abend vor dem 7. Oktober hat er für die Familie Klavier gespielt.“ Am nächsten Tag fuhr Alon, 24, zum Techno-Festival Nova, das von der Hamas überfallen wurde. Er floh und versteckte sich mit 36 anderen in einem Luftschutzbunker.

Die palästinensischen Angreifer warfen Handgranaten in den überfüllten Raum. Nur zehn Menschen überlebten, fünf wurden entführt, darunter der schwer verletzte Alon. „Er hat ein Auge verloren und in seinem Körper stecken Granatsplitter“, erzählt Ohel, dem freigelassene Geiseln von ihren Begegnungen mit seinem Neffen berichtet haben. „Er wird an einem furchtbaren Ort festgehalten, 40 Meter unter der Erde. Er ist angekettet und die Ketten schneiden ihm ins Fleisch. Er droht auch sein anderes Auge zu verlieren.“

Nach Aussagen ehemaliger Geiseln, werden die in Gaza festgehaltenen Israelis auch weiterhin gefoltert, auch mittels sexueller Übergriffe. Das geht aus einem neuen Bericht der Bar-Ilan-Universität in Tel Aviv hervor, der erstmals den „systematischen“ Einsatz sexueller Gewalt während der Gefangenschaft in Gaza aufarbeitet. 15 ehemalige Geiseln, die anonym ausgesagt haben, berichten von „erzwungener Nacktheit“, „sexuellen Handlungen unter Einsatz von Waffengewalt“, „Androhung von Zwangsheirat“ und der „erzwungenen Entfernung aller Körperhaare“.

Zwei männliche Geiseln sagten, dass sie sich ausziehen mussten und misshandelt worden seien. Der umfangreiche Bericht, der von Juristen und Soziologen der Bar-Ilan-Universität erarbeitet wurde, stützt sich auf ärztliche und forensische Erkenntnisse und kommt zu dem Schluss, dass bei dem Terrorangriff am 7. Oktober sexuelle Gewalt an mindestens fünf Orten als „taktische Kriegswaffe“ in „genozidaler Absicht“ eingesetzt wurde, und Opfer gezielt ermordet wurden, damit es keine Zeugen gebe.

Laut den Experten dürfte es noch dauern, bis die Opfer über all ihre Erlebnisse sprechen könnten, manche Taten würden vielleicht nie ans Licht kommen. Der Bericht empfiehlt für die weitere Strafverfolgung etwa durch den Internationalen Gerichtshof, eine „kollektive Verantwortung“ der Hamas-Führung festzustellen, um Beteiligte am Terrorangriff vom 7. Oktober und der Geiselnahme auch ohne individuelle Beweise strafrechtlich verfolgen zu können, etwa mit den Tatbeständen „Duldung“ oder „unterlassene Hilfeleistung.“ Auch Deutschland könne über sein nationales Justizsystem Ermittlungen einleiten.

Yael Adar, die auch nach Berlin gekommen ist, gehört zu jenen, die auf die Herausgabe sterblicher Überreste warten. „Es ist sehr schwer auf die Heimkehr von jemandem zu hoffen, der nicht mehr lebt. Aber es ist uns sehr wichtig, meinen Sohn Tamir bestatten zu können.“ Als die Terroristen der Hamas und weitere Bewohner von Gaza den Kibbuz Nir Oz stürmten, in dem Tamir in dritter Generation aufwuchs, versteckte dieser sich nicht. „Er ging nach draußen, um gegen die Terroristen zu kämpfen“, erzählt Adar.

Die Männer der Hamas verwundeten ihn, verschleppten ihn in den Gaza-Streifen und ermordeten ihn schließlich – wohl, weil er am 7. Oktober Widerstand geleistet hatte. „Wir haben immer an friedliche Koexistenz geglaubt, aber an diesem Tag sind alle unsere Überzeugungen zerbrochen“, sagt seine Mutter Yael. Und dennoch fügt sie hinzu: „Ich hoffe, an dem Tag, an dem die letzten Geiseln Gaza verlassen, werden auch die letzten israelischen Soldaten von dort abziehen.“

Auch Tamirs Onkel Yuval Biton ist nach Berlin gekommen. Er war jener Arzt, der dem Hamas-Kommandeur Yahya Sinwar in israelischer Haft das Leben rettete – dem Mann, der später jenen Angriff auf Israel befahl, bei dem Bitons Neffe Tamir in die Hände der Hamas geriet. „Ich bereue nicht, dass ich Sinwar behandelt habe“, sagt Biton. „Das war meine Pflicht als Arzt, entsprechend den Werten, die wir Israelis und die Deutschen teilen.“

Aber leider seien das nicht die Werte radikaler Islamisten. Das müssten auch die Deutschen endlich verstehen, „Für die Hamas ist Israel nur der erste Gegner. Danach wollen sie Europa und Amerika angreifen. Das haben mir Sinwar und die anderen selbst gesagt, wenn ich mich im Gefängnis mit ihnen unterhalten habe. Wir Israelis kämpfen also nicht nur für uns, wir kämpfen auch für Euch.“

Daniel-Dylan Böhmer, Senior Editor im Ressort Außenpolitik, bereist die Länder des Nahen Ostens seit Jahrzehnten. Er befasst sich vor allem mit regionalen und globalen Sicherheitsthemen und wird regelmäßig als Experte in nahöstlichen TV- und Radiosendern befragt.

Managing Editor Philip Volkmann-Schluck berichtet für WELT über internationale Politik mit einem besonderen Fokus auf den Nahen Osten, China und Südosteuropa.

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