Ein Kämpfer nach dem anderen tritt an den trichterförmigen Metallbehälter heran und legt sein Sturmgewehr hinein. Ein Mann mit Schnurrbart, eine Frau mit Pferdeschwanz, alle in Tarnfarben und mit ernster Miene. Dann lodern Flammen auf. Die Kalaschnikows brennen.

Es ist ein symbolischer Akt, aber einer, der einen tiefgreifenden Wandel markiert. Nach rund 40 Jahren bewaffnetem Kampf gegen den türkischen Staat befindet sich die kurdische Miliz PKK, die in zahlreichen Ländern als Terrororganisation gelistet ist, in Auflösung. Ein Schritt, der weitreichende Folgen für die Türkei und die Region nach sich ziehen dürfte.

Die Zeremonie fand in den Bergen außerhalb der Stadt Sulaymaniyah in der halbautonomen kurdischen Region im Norden des Irak statt – unter strengen Sicherheitsmaßnahmen. Der Zugang für Journalisten war beschränkt, Aufnahmen waren verboten und wurden erst im Nachgang verbreitet. Auf ihnen ist auch die eingangs beschriebene Szene zu sehen.

Die staatliche irakische Nachrichtenagentur berichtete, dass „der Prozess in mehreren Schritten erfolgen wird, wobei zunächst eine Gruppe von Parteimitgliedern ihre Waffen symbolisch niederlegen wird“. Die Entwaffnung soll bis September abgeschlossen sein, hieß es weiter.

Hürcan Asli Aksoy, Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin, macht auf die ungewöhnliche Reihenfolge der Ereignisse aufmerksam. „Bei Friedensprozessen ist die Niederlegung der Waffen normalerweise der letzte Schritt, dem ein Dialog über die Anerkennung politischer und kultureller Rechte vorausgeht“, sagt sie. „Hier ist es andersherum. Es entsteht der Eindruck, dass der türkische Staat im Verhandlungsprozess die Oberhand hat.“

„Unumkehrbarer Wendepunkt“

Ein hochrangiger türkischer Beamter bezeichnete den nun erfolgten Schritt als „unumkehrbaren Wendepunkt“. Doch noch ist unklar, welches Ergebnis am Ende stehen wird. Ein Friedensprozess war 2015 schon einmal gescheitert. Es steht einiges auf dem Spiel – und speziell der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat viel zu gewinnen.

Dass ausgerechnet jetzt Bewegung in die Sache kommt, hat mit den geopolitischen Entwicklungen der vergangenen Monate und Jahre zu tun. Denn die Kurdenfrage ist nicht auf ein Land allein beschränkt. Sowohl die Türkei als auch der Iran, Irak und Syrien haben kurdische Bevölkerungsanteile. Die PKK etwa hat ihren Stützpunkt und Lager im Kandil-Gebirke im Nordirak, und kurdische Milizen in Syrien sind eng mit der Organisation verflochten.

Aufgrund der regionalen Neuordnung hätten sich beide Seiten, die PKK und der türkische Staat, gezwungen gesehen, eine Lösung zu finden, so Politikwissenschaftlerin Aksoy. Russland, durch den Krieg in der Ukraine gebunden, hat an Macht im Nahen Osten verloren – und konnte seine regionalen Verbündeten nicht mehr schützen: In Syrien wurde im Dezember der langjährige Diktator Baschar al-Assad gestürzt. Zugleich hat Israel den Iran und seine wichtigste Stellvertretermiliz, die Hisbollah im Libanon, stark geschwächt.

Die Entwicklungen boten Raum für neue Allianzen. „Israel hat klar gesagt, dass es die Kurden in Syrien unterstützen wird“, sagt Aksoy. „Ankara nimmt dies als Bedrohung wahr.“ Aus Sicht der türkischen Regierung sind die dortigen kurdischen Strukturen, eine Selbstverwaltungszone im Nordosten Syriens mit eigenen Paramilitärs, identisch mit der PKK und eine Gefahr für die nationale Sicherheit der Türkei. Ankara hätte am liebsten, dass die syrisch-kurdischen Kämpfer in die nationale syrische Armee eingegliedert werden. Darüber wird derzeit verhandelt.

Gleichzeitig sind die syrischen Kurden wichtige Verbündete der USA im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Israel wiederum positioniert sich als Verbündeter von Minderheiten in Syrien, etwa kurdischer und drusischer Gruppen, die sich beide bislang nicht in die Sicherheitsstrukturen der neuen islamistischen Machthaber eingeordnet haben. Im November nannte der israelische Außenminister Gideon Saar die Kurden „natürliche Verbündete“.

Die Lage ist komplex, lässt sich aber wie folgt zusammenfassen: Die türkische Regierung will verhindern, dass ihr die Kurdenfrage entgleitet. Schon die Möglichkeit, dass das Machtvakuum im Nahen Osten neue Schulterschlüsse der Kurden begünstigen könnte, bewegt Ankara dazu, sich des Themas selbst anzunehmen.

Davon verspricht man sich auch ökonomische Vorteile. Der türkische Finanzminister Mehmet Simsek spricht von einem „neuen Wachstumsmotor“ insbesondere im Osten und Südosten der Türkei, wo günstige demografische Bedingungen herrschen. Er erwarte „massive wirtschaftliche Gewinne“, sagte er in London, wie die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.

Neue Möglichkeiten für den Präsidenten

Innenpolitisch könnten sich neue Machtoptionen für Erdogan eröffnen. Denn eigentlich darf der Präsident laut der aktuellen Verfassung bei der nächsten Wahl, die spätestens 2028 stattfindet, kein weiteres Mal antreten. Diese Begrenzung ließe sich umgehen, wenn das Parlament vorgezogene Neuwahlen beschließt oder die Verfassung geändert wird.

Dafür bräuchte die Regierungspartei AKP zusätzliche Stimmen im Parlament – zum Beispiel von der prokurdischen DEM-Partei, die in der Kurdenfrage zwischen dem PKK-Gründer Abdullah Öcalan und der türkischen Regierung vermittelte. Öcalan hatte im Mai die Auflösung seiner Organisation angekündigt. Er sitzt seit 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft. Ob die prokurdischen Abgeordneten gewillt sind, sich auf einen solchen Deal einzulassen, ist offen.

Ebenso fraglich ist, was die türkische Regierung der PKK und anderen kurdischen Gruppen im Gegenzug zu einer Entwaffnung anzubieten hat. „Bislang wurde kein einziger kurdischer Gefangener, Politiker oder Aktivist freigelassen“, sagt Aksoy. „Auch konkrete Reform- oder Gesetzesinitiativen zur Anerkennung kultureller Rechte sind bisher ausgeblieben.“

Nach der Entwaffnung sieht der Plan der türkischen Regierung vor, frühere PKK-Mitglieder rechtlich wiedereinzugliedern. Außerdem soll es langfristige Maßnahmen geben, um betroffene Gemeinschaften gesellschaftlich und psychologisch zu stabilisieren und Versöhnung zu fördern.

Die PKK hat allerdings auch die Freilassung ihres Gründers ins Spiel gebracht. Nur dann könne der Prozess voranschreiten, teilte die Organisation laut der ihr nahestehenden Nachrichtenagentur ANF mit. Die prokurdische Partei DEM indes fordert für einen nachhaltigen Friedensprozess eine Demokratisierung und mehr Rechte für Kurden, die rund 20 Prozent der Bevölkerung in der Türkei ausmachen.

Optimisten hoffen daher sogar auf einen allgemeinen Demokratisierungsschub in der Türkei. Diese Hoffnung indes steht im krassen Widerspruch zur innenpolitischen Realität: Bürgermeister der Oppositionspartei CHP werden verhaftet, Parteifunktionäre abgesetzt, Journalisten und Kulturschaffende verfolgt.

Politischer Wandel in der Türkei endet meist dort, wo er mit Erdogans eigenen Machtinteressen kollidiert.

Carolina Drüten ist Türkei-Korrespondentin mit Sitz in Istanbul. Sie berichtet außerdem über Griechenland, die Länder des westlichen Balkans, Rumänien und die Republik Moldau. Im Auftrag von WELT ist sie als Autorin und Live-Berichterstatterin für den Fernsehsender unterwegs.

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