Über dem Dorf brütet die Sonne. Es ist ein Tag, an dem man in den Schatten flüchtet und auf den Abend hofft. Ljuda, eine Frau um die 60, die ihren Nachnamen für sich behält, steht auf dem kleinen Feld hinter ihrem Haus. Sie schiebt mit einer Schaufel die trockene Erde zur Seite, sammelt Kartoffeln für das Mittagessen ein.

Ljuda wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, deutet in Richtung Nordosten, und sagt: „Von da kommen sie.“ Dann deutet sie nach Westen: „Dorthin fliegen sie – jede Nacht.“

Die Drohnen, die Raketen, die Marschflugkörper meint sie, die Russland zuletzt fast jede Nacht zu Hunderten in die Ukraine geschickt hat. Wenn sie abgeschossen werden, fallen sie vom Himmel. Letzte Nacht habe es zweimal gescheppert, berichtet die Frau. In der Nacht zuvor habe sie irgendwann aufgehört zu zählen. Das Dorf, in dem Ljuda wohnt, liegt zwischen Kiew und der russischen Grenze. Es ist genau diese Gegend, über die vor allem in der Nacht die allermeisten Drohnen fliegen, wenn Russland Städte wie Kiew, Luzk, Lwiw oder Czernowitz beschießt.

Die massiven Angriffe der vergangenen Wochen bringen die ukrainische Flugabwehr zunehmend an ihre Grenzen. Hoffnungsvoll dürfte Kiew darum am Montag nach Washington blicken: Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius trifft dort seinen US-Amtskollegen Pete Hegseth, außerdem ist Nato-Generalsekretär Mark Rutte bei Präsident Donald Trump zu Gast. Die weitere Unterstützung der Ukraine soll bei den Gesprächen eine wichtige Rolle spielen, hieß es im Vorfeld.

Trump hatte zuvor angekündigt, Waffen über die Nato-Staaten an die Ukraine liefern zu wollen, darunter auch Patriot-Flugabwehrsysteme. Bundeskanzler Friedrich Merz erklärte bereits am Mittwoch, dass Deutschland bereit sei, Washington die Patriot-Systeme samt Munition abzukaufen und an die Ukraine weiterzugeben. Der Deal könnte womöglich während des Pistorius-Besuchs offiziell verkündet werden.

Freiwillige wehren russische Luftangriffe ab

Wie groß der Bedarf an solchen Abwehrwaffen ist, lässt sich in der Nähe des ukrainischen Dorfs beobachten. Dort steht „Starshiy Sergeant“ in einer kleinen Hütte, 41 Jahre alt, kurze Haare, tätowierte Arme. Vor Russlands Invasion hatte er ein kleines Möbel-Unternehmen, war Musiker, Reisender. Heute ist er Kommandant einer Einheit der ukrainischen Luftabwehr, die sich aus Freiwilligen wie ihm zusammensetzt: Handwerker, Bauarbeiter, Lagerarbeiter, Unternehmer.

Der Deal in dieser Position ist: 20 Tage Lohnarbeit, fünf Tage Dienst – außer für den Kommandanten, der seinen richtigen Namen für sich behält. Für ihn ist es ein Vollzeitjob. Waffen und Munition stellt die ukrainische Armee zur Verfügung. Private Waffen sind nicht erlaubt. Fahrzeuge, Nachtsichtgeräte und anderes Material werden über Spenden zusammengekratzt. Fünf Gruppen, insgesamt um die 20 Mann hat „Starshiy Sergeant“ unter seinem Kommando.

Da steht er also, der Sergeant, einen Pappbecher mit kaltem Wasser in der einen Hand, mit der anderen zeigt er auf ein Tablet. Eine Landkarte der Region ist darauf zu sehen, und kleine rote Silhouetten von Fluggeräten, die sich langsam bewegen. Das sind die Jets und Drohnen der Russen. „Aus irgendeinem Grund fliegen sie dort herum“, sagt er und deutet auf die Stadt Kursk. Und weiter südlich: Da bombardiert Russland gerade Sumy.

Ernst wird es, wenn sich die roten Silhouetten auf dem Tablet in Richtung dieser Gegend bewegen, oder wenn auf der anderen Seite der Grenze ein Kampfbomber auftaucht. Gerade ist es ruhig. Im Hof vor dem Häuschen steht ein Pickup, auf dem ein schweres Maschinengewehr aufgepflanzt ist. Wenn der Befehl kommt, gilt es, sich binnen 15 Minuten bereitzumachen, loszufahren, das Material in Stellung zu bringen, Position zu beziehen, abzuwarten – und die Nerven zu bewahren.

„Jeder weiß dann, was er zu tun hat“, sagt der Sergeant. Wenn eine Rakete oder Drohne noch fünf bis sechs Kilometer entfernt sei, „können wir bestimmen, wohin sie fliegt, sie mit Wärmebildvisieren am Himmel suchen – und wenn sie in die Trefferzone kommen und wir sie im Visier sehen, eröffnen wir auf Befehl das Feuer“, erklärt der Sergeant. Dann fallen einige dieser fliegenden Bomben vom Himmel. Um die, die durchkommen, kümmert sich der weiter hinten liegende Sektor.

Russland hat Drohnenproduktion ausgeweitet

Flugabwehr ist ein Wettrennen, in dem Höhe, Geschwindigkeit, Berechnungen, Reaktionszeit, Technologie und letztlich Erfahrung zählen. Es ist ein Rennen zwischen der Quantität, die Russland stemmt, und den ukrainischen Kapazitäten am Boden. Zuletzt wurde das Missverhältnis immer offensichtlicher. Russland hat die Drohnenproduktion stark ausgeweitet – nicht zuletzt auch mit Hilfe aus dem Ausland. In abgeschossenen Drohnen gefundene Bauteile wie Chips, elektronische Module und Motoren sollen aus China stammen.

Und es ist ein Rennen zwischen technologischen Entwicklungen. Die russischen Drohnen fliegen heute oft schneller und höher als noch vor wenigen Monaten, sind dadurch schwerer abzufangen. Mitunter fliegen sie aber auch ganz tief, nur um die einhundert Meter über dem Boden. Dann sind sie schwerer vom Radar zu erfassen, dafür kurzzeitig in sehr guter Reichweite der Flugabwehr.

Die ukrainische Armee wiederum hat zuletzt allem Anschein nach eine selbst entwickelte neue Abfangdrohne erfolgreich getestet. Experimentiert wird auch an digitalen Zielvorrichtungen, die die Entfernung – und damit die Flugdauer der Projektile – und die Geschwindigkeit der Drohne beim Anvisieren einberechnen. Nicht zuletzt zähle vor allem auch die Erfahrung, sagt einer der Männer in der Basis.

Man erkenne die Waffen nach den vielen Nächten in der Finsternis am Fluggeräusch, am charakteristischen Brummen und Surren: Die Shahed-131, die Shahed 136, die Überwachungsdrohnen, die in großer Höhe fliegen, die Marschflugkörper, die Raketen. Ein Mann sagt sogar, er könne unterscheiden, ob es sich um einen Zweitakt-Motor oder einen Dreitaktmotor handele. Und der Sergeant erklärt, er könne sogar die Flughöhe dieser Waffen und die Flugrichtung erlauschen.

„Ich will nicht von Russland beschützt werden“

Er war einmal Musiker, Tontechniker am Rande eines professionellen Werdegangs. „Romantischen Klassik-Rock“ haben sie gespielt, vier Alben aufgenommen. Aber das war vor dem Krieg. In einer Zeit, in der er noch durch die Welt gereist ist, Barcelona und Madrid besucht hat, Rom, Wien und die dortigen Opernhäuser. Damals, als Krieg bestenfalls ein Spielfilm-Plot war.

Gesungen hätten sie damals übrigens Russisch in der Band. Mit der Sprache sei er aufgewachsen. Heute sagt er auf Ukrainisch: „Und diese Irren meinen, sie müssten Leute wie mich schützen – ich will nicht von Russland beschützt werden.“

Er zeigt ein Musikvideo auf seinem Handy: ein junger Mann mit braunen langen Haaren, lachend, eine Zigarette im Mund, im Kreis von Freunden. Das war er vor dem Krieg. Und ein Junge mit braunen halblangen Haaren, breit grinsend mit nackten Füßen in einer Schlammpfütze stehend. Sein Sohn, drei Jahre alt. Nach dem Krieg, da werde er reisen, sagt er, werde seinem Sohn die Welt zeigen, am Strand liegen, es sich gut gehen lassen. Eines Tages. Irgendwann.

„Starshiy Sergeant“ steht an der Kreuzung zweier Feldwege – auf der einen Seite ein Maisfeld, auf der anderen Sonnenblumen. Das ist eine ihrer Positionen, von denen sie feuern, wenn es surrt und dröhnt in der Nacht. Jetzt summen nur die Bienen.

Da ruft Ljuda, die Dame im Feld, herüber: „Jungs, möchtet ihr mitessen? Habt ihr Hunger? Ich habe viel zu viele Kartoffeln.“ Da klopft sich der Sergeant auf den Bauch und ruft durch die Büsche zurück: „Nein, aber haben Sie vielen Dank. Lassen Sie es sich gut schmecken.“

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