In der Auseinandersetzung um die Berufung der Juristin Frauke Brosius-Gersdorf in das Bundesverfassungsgericht wird es auf absehbare Zeit keine Entscheidung geben. Nach einer Sitzung des geschäftsführenden Fraktionsvorstands der Unionsfraktion im Bundestag am Dienstagabend hieß es, man sehe keinen Anlass, unter Zeitdruck eine Entscheidung zu fällen. Entscheidend sei, nun gemeinsam mit dem Koalitionspartner SPD eine für alle Seiten zufriedenstellende Lösung zu finden, erfuhr WELT aus Vorstandskreisen. Das brauche Zeit.

Die von der SPD für das Bundesverfassungsgericht vorgeschlagene Juristin Brosius-Gersdorf hat bislang trotz des Widerstands aus den Unionsparteien an ihrer Kandidatur festgehalten. Und die Grünen-Fraktion im Bundestag drängt die Fraktionsvorsitzenden von Union und SPD, Jens Spahn und Matthias Miersch, zu einer schnellen Besetzung der drei Richterstellen am Bundesverfassungsgericht. In einem Brief an Spahn und Miersch fordert die Fraktionsspitze der Grünen eine „Sondersitzung des Deutschen Bundestages für diese Woche … mit dem Ziel, die Wahl der drei vom Richterwahlausschuss nominierten Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht vorzunehmen“.

In der Union lehnt man sowohl eine Sondersitzung in dieser Woche ab als auch ein persönliches Erscheinen von Brosius-Gersdorf in der Unionsfraktion mit dem Ziel, ihre Standpunkte zu erklären. Die Union stört sich an den Positionen der 54-Jährigen unter anderem zur Abtreibung, dem Tragen von Kopftüchern im Staatsdienst und ihrer Forderung nach einer Corona-Impfpflicht. „Jetzt müssen vertrauensvolle Gespräche mit der SPD Vorrang haben. Fraktionschef Spahn und Landesgruppenchef Alexander Hoffmann haben für diese Gespräche das volle Vertrauen der Fraktion und breiten Spielraum“, hieß es nach der Vorstandssitzung. Die SPD dringt darauf, diese Gespräche noch im August abzuschließen.

Was sich nach einer Standardfloskel angehört, ist durchaus bemerkenswert. Spahn steht seit der kurzfristig geplatzten Wahl der Kandidaten am Freitag im Bundestag in der Kritik – auch in der eigenen Fraktion. Er hatte der SPD eine Mehrheit für die drei Kandidaten zugesagt, konnte diese aber nicht organisieren, weil ein Teil der Unionsfraktion Brosius-Gersdorf nicht mittragen will. Auch ein Appell von Hoffmann für die Juristin stimmte kritische Abgeordnete nicht um. Die beiden am Freitag angesetzten Wahlgänge wurde daher im letzten Moment abgesagt. Ein in der deutschen Parlamentsgeschichte so bislang einmaliger Vorgang.

Spahn räumte in einer Mail an die Abgeordneten von CDU und CSU ein, Fehler gemacht zu haben. „Die Dimension der grundlegenden und inhaltlich fundierten Bedenken gegen eine der Kandidatinnen haben wir unterschätzt“, heißt es darin. „Die Notbremse am Freitag kam zu spät.“ Es seien bereits am Wochenende viele Gespräche geführt worden, „intern und mit unserem Koalitionspartner“. Spahn schrieb, er sei „überzeugt, dass wir gemeinsam mit der SPD eine Lösung finden werden“.

Fraktionsvorstand rechnet nicht mit zeitnahem Ergebnis

Nach Einschätzung des Fraktionsvorstands der Union wurde mit dem Streit nicht das Bundesverfassungsgericht beschädigt, umso mehr aber die Koalition. Man müsse nun streng unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit der SPD zu einer Einigung kommen, hieß es nach der Sitzung am Dienstag. Mit einem zeitnahen Ergebnis sei nicht zu rechnen.

Spahn habe die SPD in den vergangenen Tagen vor der Wahl mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass es schwer werde, in seiner Fraktion eine Mehrheit für Brosius-Gersdorf zu organisieren. Die SPD-Fraktionsspitze habe gekontert, sie habe jüngst nur mit Mühe die eigenen Fraktionsmitglieder davon überzeugt, die von der Union geforderte Begrenzung des Familiennachzugs bei bestimmten Gruppen von Flüchtlingen mitzutragen. Das habe seinen Preis.

Nach Einschätzung des Fraktionsvorstands der Union könne die Wahl der Kandidaten für das Verfassungsgericht auch erst im September erfolgen. Der Bundesrat könnte ab dem 23. August die Wahl eines der drei Kandidaten, dem von der Union nominierten Günter Spinner, an sich ziehen. In der Union will man das vermeiden. Der Bundestag müsse in der Lage sein, die Personalien mit eigenen Mehrheiten zu besetzen, heißt es im Fraktionsvorstand.

Nikolaus Doll berichtet für WELT über die Unionsparteien.

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