Normalerweise bestimmen am Flughafen Leipzig/Halle die gelb lackierten Frachtflugzeuge von DHL das Bild, die an dem Luftdrehkreuz rund um die Uhr ein- und ausschweben. Doch am Freitag vergangener Woche wurde diese tägliche Routine unterbrochen für einen magischen Moment: Für einen unter größter Diskretion vorbereiteten Flug.
Eine kleine Zahl von Flughafenmitarbeitern und ukrainischen Verantwortlichen verfolgte vom Boden aus, wie eine riesige vierstrahlige Frachtmaschine vom Typ Antonow An-124 einschwebte, weiß lackiert bis auf die blau-gelben Streifen der ukrainischen Nationalflagge. Das Flugzeug mit der Kennung UR-82073 war seit dem russischen Angriff vor mehr als drei Jahren nicht mehr am Himmel zu sehen gewesen.
Nun gelang es den Ukrainern, das in aller Stille restaurierte Flugzeug aus dem vom Krieg heimgesuchten Land in den Westen zu retten. Als der Riesenflieger um 14:33 Uhr sicher in Leipzig aufsetzte, begrüßte die Flughafenfeuerwehr die Maschine mit einem Wassersalut.
Die Bilder vom zerstörten Flughafen Kiew-Hostomel gingen um die Welt. Durch die Verteidigung des strategisch wichtigen Luftdrehkreuzes gelang es der Ukraine, den Vormarsch der russischen Truppen aufzuhalten. Der Preis war die Zerstörung des Flughafens sowie der Zentrale der hier ansässigen Antonov-Frachtfluggesellschaft. Ein Foto der im Hangar ausgebrannten Antonow-225 „Mrija“, dem größten Flugzeug der Welt, wurde zum frühen Symbolbild für den russischen Angriffskrieg.
Nun ist es der Ukraine gelungen, ein neues Symbolbild zu schaffen, das statt für Zerstörung für Mut und Unbeugsamkeit steht. Am Donnerstag veröffentlichte Antonov Airlines auf mehreren Social-Media-Plattformen ein mit heroischer Musik unterlegtes Video, das eine Art ukrainischen Phoenix-Flug aus der Asche zeigt. Zwar war es nicht die von Flugzeugfans auf der ganzen Welt betrauerte Mrija, die sich darauf in den Himmel erhob. Doch auch die Rettung der kleinen Schwester An-124 ist für die Ukraine über die wichtigen ökonomischen Aspekte hinaus von hoher symbolischer Bedeutung.
Die UR-82073 war anders als die Mrija nicht von den Russen zerstört, sondern schon vor dem Angriff für umfangreiche Erneuerungsmaßnahmen in ihre Bestandteile zerlegt worden. Trotz der fortwährenden russischen Angriffe am Boden und durch die Luft hatten ukrainische Ingenieure das Flugzeug in den vergangenen Jahren unter Verwendung westlicher Komponenten komplett neu aufgebaut.
Danach stellte sich noch die Herausforderung, den Riesenflieger unter dem russischen Radar in Sicherheit zu bringen. „Der Flug aus dem ukrainischen Luftraum heraus musste wegen der Gefahr eines russischen Angriffs unter Geheimhaltung erfolgen“, sagt der langjährige Antonov-Manager Oleksandr Grytsenko, der zuletzt die im Aufbau befindliche Antonov-Vertretung in Leipzig leitete.
Schon auf dem ersten Flug nach dem Wiederaufbau trug das Flugzeug einen neuen Namen. „BE BRAVE LIKE IRPIN“ ist in großen Lettern unter den Cockpitfenstern zu lesen. „Sei tapfer wie Irpin“ nimmt Bezug auf die von den Russen überfallene und stark zerstörte Stadt Irpin. In Leipzig soll die An-124 Grytsenko zufolge zunächst Testflüge durchführen.
Aufgrund der zahlreichen neuen Komponenten, neuer Elektronik und einer neuen Triebwerkssteuerung muss das Flugzeug neu zertifiziert werden. Für den Rettungsflug aus der Ukraine durfte das Flugzeug offenbar mit einer besonderen Einfluggenehmigung auch ohne Zertifizierung in Leipzig/Halle landen.
An dem sächsischen Flughafen befindet sich die ausgelagerte operative Zentrale von Antonov. Neben dem Neuzugang sind hier weitere An-124-Flugzeuge stationiert, die „Tapfer wie Butscha“, die „Tapfer wie Charkiw“. Insgesamt fünf ukrainische An-124-Flugzeuge fliegen von Leipzig aus zivile und militärische Frachtmissionen für die Ukraine, die Nato sowie für zivile Kunden in aller Welt und generieren so dringend benötigte Einnahmen für das Staatsunternehmen.
Vor einigen Jahren hatten Russland und die Ukraine noch gemeinsam große Pläne in Leipzig. Gemeinsam mit der sächsischen Landesregierung verfolgten sie laut internen Papieren an dem Flughafen den Aufbau eines großen Wartungs- und Herstellungsstandorts für Antonow-Flugzeuge. 31 große Frachtflugzeuge sollten hier auf westliche Technik umgerüstet werden. In einem nächsten Schritt plante man sogar den Aufbau einer eigenen Endmontagelinie am Flughafen Leipzig/Halle, wo 60 Antonow An-124-Frachter gebaut werden sollten. Der Angriff Russlands auf die Krim machte diesem Vorhaben ein Ende.
Geblieben ist von den Plänen nur ein Hangar, in dem ukrainische Techniker heute die eigene Flotte sowie Antonow-Frachter im Dienste anderer Airlines warten. Ein Stück weiter liegen drei russische Antonow der früheren Schwester-Gesellschaft Volga-Dnepr an der Kette. Die erste Antonow mit westlicher Technik haben die Ukrainer nun alleine gebaut – die „Tapfer wie Irpin“.
Steffen Fründt ist Wirtschaftskorrespondent der WELT und berichtet über Themen aus Luftfahrt, Tourismus sowie die Sport- und Freizeitbranche.
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