Keine vier Monate ist es her, dass in der kleinen Gemeinde Le Vernet in den französischen Südalpen Angehörige und Airlinevertreter zu einer stillen Gedenkfeier zusammenkamen, bei der sie der 149 Menschen gedachten, die im März 2015 zuvor beim Absturz von Germanwings-Flug 4U9525 den Tod gefunden hatten. Viele Hinterbliebene tragen auch zehn Jahre später schwer daran, das Geschehene zu verarbeiten. Denn die Ursache dieses Unglücks ist schwerer zu begreifen und zu akzeptieren als jedes technische Versagen. Der Pilot hatte das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht.
Nun steht die Luftfahrt vor der schwer zu ertragenen Möglichkeit, dass der Absturz von Air India Flug 171 vor vier Wochen in Indien ebenfalls auf einen Pilotensuizid zurückzuführen sein könnte. Der vor wenigen Tagen veröffentlichte Zwischenbericht der Ermittlungsbehörde zum Absturz der Boeing 787-8 Dreamliner legt den Schluss nahe, dass einer der Piloten durch eine Unterbrechung der Treibstoffzufuhr das Unglück absichtsvoll herbeigeführt haben könnte. Das Wallstreet Journal berichtet unter Berufung auf einen US-Ermittler, dass derzeit am wahrscheinlichsten erscheint, dass der Kapitän der Unglücksmaschine die Treibstoffzufuhr mit Absicht kappte, während der fliegende Copilot versuchte, den Absturz noch zu verhindern. Pilotenvertreter warnen vor vorzeitigen Schlüssen. Doch auch sie räumen ein, dass die psychische Gesundheit von Piloten in der Luftfahrt ein Thema ist.
Nach dem vorläufigen Bericht der zuständigen Luftfahrtbehörde AAIB waren laut Flugschreiber-Daten von Air India 171 inmitten des Startvorgangs die Treibstoffschalter für die beiden Triebwerke kurz nacheinander ausgeschaltet worden. Gegen eine unabsichtliche Bedienung sind diese mechanisch gesichert, ein gleichzeitiger technischer Ausfall erscheint extrem unwahrscheinlich. Nach der Aufzeichnung der Cockpitgespräche fragt ein Pilot den anderen, warum er die Schalter umgelegt habe, der andere streitet dies ab.
„Für mich enthält dieser Bericht kaum ernsthafte Ansatzpunkte für eine andere Interpretation als Suizid“, sagt Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt. Dafür spreche auch, dass zu den hinzugezogenen Fachleuten Mediziner und Psychologen zählen. „Das ist sehr ungewöhnlich. In einer frühen Phase der Untersuchungen, in der normalerweise erst Trümmerteile zusammengesetzt werden, braucht man normalerweise keine Psychologen“, sagt er. „Das ist ein deutlicher Hinweis auf die Arbeitshypothese der Ermittler.“
Die deutsche Pilotenvereinigung VC Cockpit warnt indes „vor vorschnellen Bewertungen zum Absturz der Air-India-Maschine“. Sie spricht von offenem Klärungsbedarf: „Die verunglückte Maschine war mit einem Schalter zur Kontrolle der Treibstoffzufuhr („Fuel Control Switch“) ausgestattet, bei dem unter Umständen die Arretierungsfunktion, das sogenannte ,Locking Feature‘, nicht intakt gewesen sein kann“, heißt es in einer Stellungnahme. Dies könne eine unbeabsichtigte Betätigung begünstigt haben. Trotz bekannter Sicherheitsbedenken sei dieses Bauteil bei Air India weder überprüft noch durch eine verbesserte Version ersetzt worden.
Die Lufthansa-Gruppe wies nach dem Zwischenbericht ihre Wartungsteams an, in allen fünf „Dreamliner“-Jets der Airline sowie an weiteren zweien im Dienste der Tochtergesellschaft Austrian Airliens die Schalterverriegelung für die Treibstoffzufuhr zu überprüfen. Die Untersuchung sei rein vorsorglich erfolgt, es habe weder Hinweise auf mögliche Probleme mit den Schaltern gegeben noch irgendwelche Feststellungen, erklärte eine Sprecherin auf Nachfrage.
Auch die amerikanische Zivilluftfahrtbehörde FAA, die nach Problemen mit der Verriegelung von Boeing-Treibstoffschaltern vor sieben Jahren ein Bulletin herausgegeben hatte, erklärte die Schalter in dieser Woche für sicher. Obwohl das Design der Fuel-Control-Switches, einschließlich der Sperrfunktion, bei verschiedenen Boeing-Flugzeugmodellen ähnlich ist, betrachtet die FAA dieses Problem nicht als unsicheren Zustand und sieht keinen Anlass für die Herausgabe einer Warnung, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters.
Tatsächlich besitzen auch Airbus-Jets an ähnlicher Stelle entsprechende Schalter, die es den Piloten ermöglichen, auch während des Fluges die Treibstoffzufuhr zu den Triebwerken einzeln oder komplett zu unterbrechen. „Im Falle eines Triebwerkbrands muss die Treibstoffzufuhr auch während des Fluges schnell zu unterbrechen sein“, erklärt Großbongardt ihren Sinn. Solche Schalter sind in gleicher oder ähnlicher Bauart seit vielen Jahren in Tausenden von Verkehrsflugzeugen im täglichen Einsatz. Dass sich in einem Flugzeug zwei Schalter praktisch gleichzeitig und ausgerechnet in der verwundbarsten Flugphase von selbst entsperren und nach hinten klappen, ist extrem unwahrscheinlich. Gegen eine Betätigung in missbräuchlicher Absicht lassen sich diese und andere Bedienelemente eines Flugzeugs hingegen kaum schützen.
Gratwanderung für Airlines
Ob und aus welchen Gründen eine solche Absicht bei einem Piloten von Air India 171 vorgelegen hat, ist unbewiesen und wird es möglicherweise auch nach Ende der Untersuchungen bleiben. Airlines beschäftigen sich nun dennoch mit neuer Dringlichkeit mit der Frage, wie sie mit dem Thema mentale Gesundheit von Piloten umgehen. Für sie ist dies eine schwierige Gratwanderung, denn es enthält ein Dilemma. Sie müssen einerseits alles tun, um sicherzustellen, dass ihre Cockpitbesatzungen psychisch fit und in der Lage sind, ein Flugzeug sicher zu führen.
Spätestens nach der Germanwings-Tragödie ist die Konsequenz, dass schon bei den geringsten Anzeichen für mentale Probleme Piloten im Zweifel aus dem Dienst genommen werden. Zugleich erhöht ein sehr strenger Umgang mit psychischen Problemen die Gefahr, dass Betroffene sich im Zweifel lieber erst nicht ihrem Arbeitgeber anvertrauen.
„Das ist ein Thema“, sagt eine Cockpit-Sprecherin. Wenn sich ein Pilot Hilfe suche, folgten eine fliegerärztliche Untersuchung und oft ein sehr langer Zeitraum, bis er wieder fliegen dürfe. Die Angst davor sei groß. „Selbst wenn es nur um eine Eheberatung geht, haben viele Angst, dass das für sie zum Nachteil werden kann“, sagt sie. Die Pilotengewerkschaft bietet deshalb gleich auf der Startseite ihrer Homepage ein eigenes Notfalltelefon an, das mehrsprachige Hilfe unabhängig von Flugbetrieben und Arbeitgeberinteressen verspricht.
Die europäische Luftfahrtbehörde EASA fordert Airlines dazu auf, für ihr fliegendes Personal im Fall von zum Beispiel Depressionen oder Drogenproblematik unabhängige Unterstützung anzubieten. Es gibt sogenannte Peer-Support-Angebote, bei denen sich Piloten anderen Piloten anvertrauen können. Dabei greifen die deutschen Airlines auf ein stiftungsbasiertes „Anti Skid“-Programm zurück, welches sowohl bei substanzbezogenen als auch bei mentalen Störungen ambulante und stationäre Therapien ermöglicht. Das Programm arbeitet mit dem Luftfahrtbundesamt und dem Fliegerarzt-Verband AME zusammen.
Neben „Anti Skid“ unterhält die Lufthansa-Gruppe noch eigene Peer-Support-Programme in den Flugbetrieben. Nach dem Prinzip „Kollege für Kollege“ würden Vertrauensteams des psychosozialen Dienstes des Arbeitgebers sowie eines eigenen medizinischen Dienstes gebildet, über die regelmäßig durch Werbeaktionen und Informationsstände informiert werde, erklärt die Lufthansa auf Anfrage.
„Der Pilotenberuf ist nicht einfach. Man ist viel weg von zu Hause, Krankmeldungen werden nicht gerne gesehen und es herrscht teilweise auch ein gewisses Männlichkeitsbild vor“, sagt Luftfahrtexperte Großbongardt. „Da kann es sehr helfen, wenn es ein niederschwelliges Gesprächsangebot gibt, bei dem man nicht gleich einen Lizenzverlust zu befürchten hat.“
Haben Sie suizidale Gedanken, oder haben Sie diese bei einem Angehörigen/Bekannten festgestellt? Hilfe bietet die Telefonseelsorge: Anonyme Beratung erhält man rund um die Uhr unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222.
Auch eine Beratung über das Internet ist möglich unter http://www.telefonseelsorge.de. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.
Steffen Fründt ist Wirtschaftskorrespondent der WELT und berichtet über Themen aus Luftfahrt, Tourismus sowie die Sport- und Freizeitbranche.
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