Die Sache mit Kanada fing mies an.

Kurz nach Bens Abreise hat sich mein mütterlicher Organismus darauf eingestellt, morgens um vier im Halbschlaf aufs Handy zu gucken, ob ihn schon wieder ein leerer Magen plagt. Seitdem bin ich passive Stalker-Mutter: sobald er online ist, rufe ich ihn an, um zu fragen, ob er satt ist.

Seit September liegen zwischen uns siebentausendfunfhundertfünfundneunzig Kilometer und der Atlantische Ozean. So weit ist es von Hamburg nach Kelowna/Kanada, zu weit, um bei Bens Gastfamilie mal eben auf den Tisch zu hauen, weil sie partout nichts Gescheites zum Essen auf den Tisch stellen. Als Mutter muss man da tapfer sein. Wir Mütter streichen einerseits voller Sehnsucht Tage im Kalender ab, wie im Knast. Und sind zugleich erstaunt über die rasant schmelzende verfügbare Zeit „jenseits der Kinder“. Eine sonderbare, typisch mütterliche Ambivalenz. 

Es ist nur so: wenn Ben Hunger hat, schlaf ich schlecht. Und Ben hat immer Hunger. Man kann sich ihn als Super-Verbrennungsmotor vorstellen, der zwischen Mittag- und Abendessen problemlos ein Avocado-Brot, Hühnersalat, zwei Kakao mit Sahne plus Himbeerquark und danach noch Chips und Schokonüsse verbrennt.

Doch Bens kanadische Familie sei weder am kulturellen, noch am kulinarischen Input für ihre europäischen Austauschschüler interessiert, sagt er. Ben und sein Gastbruder José aus Barcelona bekommen allabendlich „eklige“ Würstchen mit Kartoffelbrei aus der Tüte, tagsüber werden sie mit Äpfeln abgespeist. Das Magenknurren während des Unterrichts sei so laut, dass seine Mitschüler fragen, ob er einen garstigen, kleinen Hund im Schulrucksack verstecke. Also sah Ben sich gezwungen, elterliche Verfassung hin oder her, die Schuldenbremse auf seinem Taschengeldkonto gemäß nationalem Vorbild auszusetzen: dort liefen 46 Kanadische Dollar für Tim Hortons Donuts, mehrmals 20 CAD für Poutine, Pommes mit Käse und Bratensoße und um die zehnmal Beavertails (Biberschwänze) mit Ahornsirup auf, alleine im ersten Monat. Gesund war das nicht. Sein Jahresbudget für Fast Food war aufgebraucht, als wir bei der Austauschorganisation vorsichtig nach der Möglichkeit einer neuen Gastfamilie fragten.

Hungrig zwischen Hundehäufchen

Bens Status, hungrig zwischen Hundehäufchen, war bis letzte Woche nichts, was Eltern entspannt, wenn ihre Kinder auf der anderen Seite der Welt verweilen. Andererseits redete ich mir ein: Was ihn nicht umbringt, macht ihn härter. Oder? Neuerdings vermisste er meine zehntausendste Bolognese, die Kocharien seines Vaters, „Jim Block“ und das Schoko-Geheimversteck. Lernte er etwa zu schätzen, wie gut er es zu Hause hat? Fast feierlich verkündete Ben vor ein paar Tagen seine Rückkehr. Entgegen dem Angebot, ein Jahr in Kanada zu bleiben, käme er im Winter nach Hause. Klar tat er mir leid. All der Stress, das viele Geld, die vergebliche Hoffnung auf das ach so schöne Kanada. Gefreut hab ich mich trotzdem.

Doch seit gestern Mittag ist alles anders: Ben und sein spanischer Bruder haben eine neue Gastfamilie! Die Mutter: eine „Stay-at-Home-Mom“, jawoll, eine echte Tradwife, keine Insta-Fake-Kopie, sechs Kinder, fünf davon aus dem Haus. Der Vater: Businessman mit Dauerloge beim Eishockey, Ferrari und Football-Faible. Dazu Garten, Pool, Whirlpool, Katzen, Eichhörnchen und Fische. 

Das war’s dann also.

Ob Ben je wieder nach Hause kommen will? 

Ehrlich, Kanada kann mich mal!

Das Essen sieht genauso aus wie bei unserem Lieblings-Thai

Kein Mensch braucht diese kalten Berge, langweiligen Wälder oder Pommes in Bratensoße! Wäre Ben wenigstens nach Quebec gegangen, Französisch lernen... Doch wozu British Columbia? Ab der Vorschule lernt jedes Kind in Europa Englisch, auf YouTube und Insta sind 80 Prozent aller Filmchen englischsprachig, wir gucken inzwischen fast alles nur noch in OMU. Ben sprach bereits vor seiner Abreise so gut, dass ich mich frage: Haben Auslands-Jahre im angelsächsischen Sprachraum nicht bis nach der Schule Zeit? Können sie dann nicht immer noch Work&Travel, Interrail, Auslandssemester, Au-pair, was weiß ich für Reisen mit Freunden machen? 

Seit ein paar Tagen flutet Ben den Familienchat mit Fotos von „seinem“ perfekten Haus, der perfekten Mutter, vom Eishockey, vom Essen, das genauso aussieht wie bei unserem Lieblings-Thai. Das Ganze erinnert mich dunkel an mich selbst damals, wie toll ich meine französische Austauschfamilie fand, wie viel cooler als meine eigne. Cooleres Haus, coolere Stadt, mit Blick aufs Mittelmeer, und nicht auf Schafe, Schwaben und Obstbaumhügel.

Was soll’s, ja Hauptsache es geht ihm gut.

Und bis er wiederkommt, habe ich viel Zeit für mich. Bleibe im Büro so lange ich Lust habe, bummle in der Mittagspause herum, plane kein Abendessen, hab kaum noch Wäsche, keine Diskussionen über Hausaufgaben und Vokabeltests. Die Zeiten, wo ich mit Ben auf dem Sofa bei „Malcolm in the Middle“ gekuschelt habe, waren eh so gut wie vorbei (abgesehen von der kurzen Nacken-Kraul-Einheit). Und Dialoge mit männlichen Teenagern, Jungs-Mütter wissen es, sind auch nichts, was einen Tag bereichert:

Wie war’s in der Schule? Gut. 

Wie lief der Vokabeltest? Gut. 

Hast du Hausaufgaben auf? Mama, nerv nicht!

Welchen Ben bekomme ich im Sommer zurück, was macht das Jahr aus ihm, außer einen Kelowna-Rockets-Fan? 

Heute Morgen gegen vier rief Ben mich an, er habe gesehen, dass ich online war. Wollte mir erzählen, was es zum Abendessen gab. Das wolle er jetzt immer tun, auch damit ich wieder schlafen kann. Huch, wie ungewohnt lieb, denk ich da, vielleicht habe ich Kanada ja doch unterschätzt.

Journalistin Andrea Müller versucht oft vergeblich, ihre beiden Söhne, 15 und 20 Jahre alt, zu Feministen zu erziehen. Die Folge: eine unbeugsame männliche Macker-Opposition. Caspar und Ben heißen in Wirklichkeit anders und dienen an dieser Stelle lediglich als Inspiration für die journalistische Form der Glosse.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.