WELT: In Vorbereitung auf dieses Gespräch habe ich einige Porträts über Sie gelesen. Da ist mir aufgefallen, dass es sehr blumige Überschriften gab. Ich lese Sie Ihnen mal vor und Sie sagen mir, von welcher Sie sich am treffendsten beschrieben fühlen: Eine Überschrift war vom „Spiegel“: „Die Anti-Habeck“. Dann gab es „Die Ordo-Ministerin“ von WELT AM SONNTAG. Oder von der „Süddeutschen Zeitung“: „Die Rätselhafte“. Was trifft Sie am besten?
Katherina Reiche: Ich lasse mich nicht auf Überschriften reduzieren. Ich nehme mal an, da wurde lange dran getextet, um mich in zwei Worte zu fassen. Eine Wirtschaftsministerin in dieser Zeit hat vor allem die Aufgabe, das Land wieder zu mehr Wachstum zu führen. Wir spüren und sehen das an allen Ecken und Enden. Das sind zwei große Themen, die das Land bewegen: Das ist die Migrationsfrage und es ist die Frage, wie wir wieder zu Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit kommen, wie wir Arbeitsplätze sichern. Insofern ist mir die Überschrift egal, solange der Inhalt der Politik stimmt.
WELT: Sie sagen es gerade selbst: Deutschland ist in der Krise. Wir befinden uns im dritten Jahr in Folge in der Rezession. Der Bundeskanzler hatte angekündigt, dass sich die Lage bis zum Sommer spürbar für jeden bessern würde. Der Sommer ist fast zu Ende. Wann geht es aufwärts mit Deutschland?
Reiche: Wir haben in nicht einmal hundert Tagen sehr viel an Gesetzgebung umgesetzt, die auf Entlastung zielt. Wir entlasten Bürgerinnen und Bürger von hohen Energiepreisen. Wir haben immerhin Steuerreformen sowohl in der Körperschaftssteuer angestoßen, als auch bei der Einkommenssteuer. Viele Unternehmen sind ja als Personengesellschaften organisiert. Ob all das ausreicht, werden wir sehen, weil die Maßnahmen natürlich auch erst wirken müssen. Klar ist, dass wir in einer solchen strukturellen Krise sind, dass wir ganz grundlegend von den sozialen Sicherungssystemen über das Steuersystem, über die Energiepolitik bis hin zur Entbürokratisierung anpacken müssen. Das wird nicht alles über Nacht gehen. Aber worauf die Bürgerinnen und Bürger vertrauen können müssen, was sie spüren müssen, ist, dass es nach vorne geht, dass es in die richtige Richtung geht. Dazu habe ich heute zum Beispiel für den Bereich der Energiepolitik erste Reformverschläge gemacht.
WELT: Darüber wollen wir nachher noch sprechen. Ich möchte gerne noch einmal auf die anderen Maßnahmen zurückkommen, die Sie vorhin erwähnt haben. Glauben Sie persönlich denn, dass die ausreichen, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen? Seit sechs Jahren hat sich Deutschlands Wirtschaftsleistung im Grunde nicht gesteigert. Beim Wachstum sind wir am Ende in der Tabelle der G-7-Staaten. Reicht das wirklich aus? Die Körperschaftssteuer, die Senkung, die kommt ja zum Beispiel erst ab 2027, aber wir sind jetzt in der Krise.
Reiche: Sie haben vollkommen recht. Wir haben diese Reformen jetzt angelegt, aber sie wirken noch nicht. Deshalb müssen wir jetzt handeln und die Hebel ansetzen, die wir unmittelbar verändern können. Wir müssen das Thema Arbeitszeit, Lebensarbeitszeit flexibilisieren. Wir werden mit der Aktivrente einen Beitrag dazu leisten. Natürlich müssen wir auf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Rücksicht nehmen, die tatsächlich nicht mehr können. Aber es gibt so und so viele, die gern weiterarbeiten möchten. Ich wünsche mir keine Debatte, die auf den Dachdecker reduziert, sondern eine, die die Erwerbsbiografien unserer Bürgerinnen und Bürger in den Blick nehmen. Wir müssen neben dem Thema Rente und Sicherung der sozialen Systeme auf die Schuldentragfähigkeit schauen. Wir haben große Ausgaben im Bereich der sozialen Sicherung. Wir müssen investieren in Verteidigung, in die Verteidigung im Nato-Bündnis, in unsere eigene Verteidigung. Und wir wollen Klimaschutz anreizen. Alles drei im selben Maße unkonditioniert immer weiter anwachsen zu lassen wird nicht gehen, das heißt also priorisieren. Und da ist die Energiepolitik ein wichtiger Hebel, um zur Kostenreduktion zu kommen, um Spielraum für die anderen beiden genannten Sektoren zu haben.
WELT: Sie haben ja ein Problem gerade schon beschrieben. Die Wirtschaft brummt nicht, deswegen fehlen Einnahmen, nicht nur den Menschen, sondern auch dem Staat. Gleichzeitig haben wir einen unfassbar aufgeblähten Sozialstaat. Welche konkreten Maßnahmen müssten jetzt in diesem angekündigten Herbst der Reformen ergriffen werden, um diese Diskrepanz zu beseitigen?
Reiche: Wir haben in dreierlei Hinsicht eine Reformagenda ausgerollt. Das eine ist, schnell zu Kostensenkungen zu kommen. Da waren die Kosten im Energiesystem, die wir senken, und Entlastungen von ersten Berichtspflichten. Wir haben die Vergabeprozesse beschleunigt, wir haben große Sondervermögen, sprich Schulden, die investiert werden müssen. Dafür müssen wir für schnellere Vergabe sorgen. Das ist sozusagen der Investitionsteil. Wir müssen aber auch darauf schauen, wo wir Investitionen angereizt haben und zu lange Zeit nicht auf die Subventionen geschaut haben, die wir reduzieren können. Und hier bin ich dann erneut sozusagen in meinem Ressort der Energiepolitik, wo wir mit effizienterem Einsatz von Mitteln mehr Klimaschutz schaffen können, ohne die öffentlichen Haushalte und die sozialen Mittel zu überlasten.
WELT: Sie sprechen das Soziale an. Sie sind ja Chemikerin. Wie steht es um die Chemie in der schwarz-roten Koalition? Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie mit den Sozialdemokraten zusammen Reformen auf den Weg bringen können, die das Wort Reform verdient haben?
Reiche: Eine Analyse und eine Beobachtung: Die Analyse der Kommunalwahl in NRW: Was hat die Wähler in NRW an die Wahlurne getrieben? Zwei wichtige große Politikbereiche. Migration und Wirtschaftspolitik. Zu Migration macht mein Kollege Alexander Dobrindt unglaublich viel und bringt die Migrationspolitik wieder auf richtigen Kurs. In der Wirtschaftspolitik sieht man in NRW, unter welchem Transformationsdruck die Wirtschaft steht. Die Stahlindustrie, die Chemieindustrie, die Automobilindustrie, die Zulieferer und die Wirtschaftspolitik. Das hat gezeigt, dass die Union die richtigen Themen adressieren. Die AfD ist stärker geworden. Es ist nicht mehr nur der Protest. Es ist die klare Erwartung an eine Veränderung in Bezug auf Wettbewerbsfähigkeit und Migration. Die SPD hat, wenn auch nur leicht, Verluste hinnehmen müssen.
WELT: Und trotzdem ist es das schlechteste Ergebnis seit 1946.
Reiche: Absolut. Der Bundesfinanzminister hat angedeutet, dass er zu mehr Reformen bereit ist. Ich hoffe, dass die SPD die Kraft findet, diesen Weg zu gehen. Es wäre gut, wenn wir den Koalitionsvertrag umsetzen könnten. Dann würden wir einen Schritt weiter kommen. Das persönliche Verhältnis zu den Ministerkollegen ist gut. Aber die Erkenntnis, dass wir wirklich Veränderungen brauchen, da haben wir eine unterschiedliche Basis der Einschätzung.
WELT: Glauben Sie denn, dass diese Erkenntnis bei der Arbeits- und Sozialministerin Bärbel Bas seit gestern eingetroffen ist, denn die hat ja vorher gesagt, den Sozialstaat zu kürzen oder dass man sagt, der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar, das sei Bullshit. Es gab gestern ein Desaster in der Heimatregion von Bärbel Bas. Glauben Sie, sie wird daraus schlussfolgern, dass die Menschen sich doch Reformen wünschen? Oder kann es noch schlimmer werden? Sie sagt, wir brauchen noch mehr soziale Hängematte. Was ist Ihre Meinung, was die Kommunalwahlen auslösen?
Reiche: Ich konnte die Kollegin Bas noch nicht sprechen. Aber gerade ihr Wahlkreis, das Ruhrgebiet, Duisburg, ist geprägt von Stahl, von Schwerindustrie. Diese Industrie ist unter massivem Druck. Das lösen wir nicht, indem wir immer mehr Fesseln an Unternehmen anlegen. Wir müssen flexibler werden in Bezug auf Arbeitszeiten, in Bezug auf Berichtspflichten, in Bezug auf Bürokratie. Ich denke an das Tariftreuegesetz, zu dem wir uns verpflichtet haben, was aber, so hoffe ich, wirklich so ausgestaltet wird, dass es nicht Klein- und Mittelstand exkludiert, dass es Start-ups nicht exkludiert. Dann kann man nur an die Sozialdemokratie appellieren, sich sehr genau anzuschauen, wo der Stimmenverlust herkommt. Das sind die industriellen Kerne, die früher klassische sozialdemokratische Klientel waren. Wo Gewerkschaftsvertreter mir sagen, wir müssen wieder wettbewerbsfähig werden, sonst können wir den Standort nicht halten.
WELT: Weil Sie die Wettbewerbsfähigkeit ansprechen. Die Arbeitskosten sind in Deutschland viel höher als in anderen EU-Staaten oder auch in den USA. Können wir es uns in dieser Situation leisten, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung oder zur Rente zu steigern?
Reiche: Wir drohen, ohne substanzielle Reformen auf fast 50 Prozent, über 48 Prozent Abgaben für die sozialen Sicherungssysteme zu gehen. Früher waren schon 40 Prozent, 42 Prozent, wie wir sie jetzt haben, eine Schallschwelle, wo Bundesregierungen gesagt haben: Wir müssen die Staatsquote zurückführen. Es kommen die Steuern dazu. Es braucht Reformen, damit der Faktor Arbeit nicht weiter belastet wird. Die Kombination aus hohen Lohnnebenkosten, hohen Energiekosten und Bürokratie führt dazu, dass Deutschland kein attraktiver Standort mehr zu werden droht. Wir können viel, wir können mehr schaffen. Aber dafür müssen wir ein paar Fesseln lösen und uns sehr genau anschauen, worin Wettbewerbshebel bestehen. Die bestehen nicht darin, Kosten unkontrolliert auf die Lohnnebenkosten zu drücken.
WELT: Wenn Sie sagen, Fesseln lösen, heißt das auch, dass es Teil einer Rentenreform sein muss, dass wir alle länger arbeiten müssen?
Reiche: Sie kennen meine Auffassung dazu, dazu stehe ich. Ich glaube, dass angesichts der demografischen Situation und von deutlich verlängerten Lebensarbeitszeiten wir ein System brauchen, das über die gesamte Erwerbsbevölkerung betrachtet länger arbeiten muss. Wir hatten in den 60er-Jahren sechs Beitragszahler auf einen Rentner. Wir sind jetzt bei zwei. Es ist relativ klar, dass wenn ich das Arbeitsangebot nicht steigere, die Rentenbeiträge weiter steigen und damit der Standort unattraktiver wird. Anstatt uns zu verschanzen, sollten wir schauen, wo in den Vorgaben des Koalitionsvertrages wir noch ein paar Spielräume finden, um denjenigen, die es möchten, zu ermöglichen, länger zu arbeiten, ohne Einbußen hinzunehmen.
WELT: Einer der Gründe für die Wirtschaftskrise in Deutschland sind die hohen Energiepreise. Die sind etwa dreimal so hoch wie in den USA, fünfmal so hoch wie in China. Ist die Energiewende gescheitert?
Reiche: Die Energiewende steht an einem Scheideweg. Die Energiewende beschränkte sich in den letzten Jahren darauf, den Klimaschutz und den Zubau von erneuerbaren Energien in den Blick zu nehmen. Da sind wir auch weit gekommen. Wir haben 60 Prozent des Strombedarfs aus erneuerbaren Energien. Das ist hervorragend. Was aus dem Blick geraten ist, ist die Versorgungssicherheit und sind die Preise. Uns haben die Gutachter, die wir befragt haben, ins Stammbuch geschrieben, dass keine Regierung vorher die Kostentragfähigkeit in den Blick genommen hat. Also ist das, was wir an Kosten auftürmen, die Förderung erneuerbarer Energien, den Netzausbau, der dahinter kommt, die vielen Sicherungssysteme, die wir brauchen, um die Systeme stabil zu halten, das Abregeln von Strom, der gar nicht genutzt wird, weil er nicht abtransportiert werden kann, ein Kostenblock geworden, der zulasten des Industriestandorts, aber auch der privaten Haushalte geht. Da müssen wir ran. Und man kann Klimaschutz effizienter gestalten. Wir können erneuerbare ausbauen in einem effizienteren Weg. Nichts tun wird aber dazu führen, dass die Belastungen aus den Energiekosten ein weiterer Faktor sind, die den Standort belasten. Und hier haben wir alle Chancen, der Welt zu reformieren.
WELT: Sie haben gerade gesagt, Erneuerbare ausbauen, aber auf einem effizienteren Weg. Was heißt das, weniger Erneuerbare? Wenn wir uns die Solarenergie anschauen, ist aufgefallen, dass es im vergangenen Jahr Hunderte Stunden mit negativen Strompreisen gab. Das heißt die Anbieter haben dafür bezahlt, dass man den Strom abnimmt, weil es Überkapazitäten gab. Muss damit Schluss sein?
Reiche: Wir müssen die erneuerbaren Energien an den Netzausbau koppeln. Es muss gelten: Ich kann nur dort erneuerbaren Strom einspeisen, wo er auch tatsächlich genutzt wird. Bei der Aufdach-Photovoltaik, also bei den Anlagen auf dem Dach, hatten wir von allen Betriebsstunden 29 Prozent, also ein gutes Drittel, wo der Strom nicht genutzt werden konnte, aber der Verbraucher dafür bezahlt hat. Das können wir auf Dauer nicht laufen lassen. Was wir tun müssen, ist ein kluger Zubau. Erneuerbare zu kombinieren mit Batterien, um abzupuffern, dass, wenn das Netz voll ist, die Batterie geladen wird. Große Windparks dort anzuschließen, wo noch Platz im Netz ist. Und auf der anderen Seite die Versorgungssicherheit in Form von gesicherter Leistung nicht zu vergessen. Der Atomausstieg ist vollzogen. Der Kohleausstieg ist gesetzlich festgelegt. Was wir vergessen haben, ist ein gesicherter Einstieg ins Gas, respektive in gesicherte Leistung. Und das müssen wir schaffen. Das kann Methan sein, das kann auch Biogas sein. Aber wir brauchen gesicherte Leistung für die Stunden, wo die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht.
WELT: Weil Sie gerade den Atomausstieg angesprochen haben, der von Angela Merkel angestoßen und von Robert Habeck finalisiert wurde. Sie haben direkt nach Ihrem Amtsantritt für Aufsehen gesorgt, als Sie in Brüssel an einem Treffen der EU-Allianz atomfreundlicher Staaten teilgenommen haben. Kann man dem entnehmen, dass Sie noch Hoffnung haben auf eine Renaissance der Kernenergie in Deutschland? Oder haben Sie sich von dem Gedanken verabschiedet?
Reiche: Erstens: Wir müssen zumindest wahrnehmen, dass sich die Mehrheit der Europäer für einen anderen Mix entscheidet als die Bundesrepublik Deutschland. Unsere europäischen Nachbarn – bis auf wenige, Luxemburg zum Beispiel oder Österreich – setzen auf einen breiten Mix, wissend, dass Investitionen in Kernenergie, zum Beispiel in unserem Nachbarland Polen, eine langfristige Angelegenheit sind. Sie sagen aber, wir müssen auf vielen Füßen stehen. Wir müssen uns absichern mit verschiedenen Technologien, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Wir sehen darüber hinaus Entwicklungen in bestimmten Technologien: Fusionsforschung, da wollen wir auch was machen, das haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Andere Staaten schauen auf kleine Kernreaktoren, kleine modulare Reaktoren. Dieser Weg steht innerhalb der Koalition in unserem Land nicht offen. Aber wir sollten zumindest so viel Offenheit bewahren, zu verstehen, was in den Nachbarstaaten passiert. Und uns gegenseitig versichern, dass der individuelle Mix etwas ist, was es zu respektieren gilt. Und dass wir den EU-Binnenmarkt-Strom nur dann vollenden, wenn wir für einen guten Ausgleich und eine Verteilung des Stroms sorgen. Eine Vertiefung des EU-Energie-Binnenmarkts ist zwingend für ein Gelingen der Energiewende.
WELT: Unter den hohen Stromkosten leidet auch unsere Schlüsselindustrie, die Autoindustrie. Das ist nicht das einzige Problem für unsere strauchelnde Autobranche, sondern auch die Regulierungen aus Brüssel. Stichwort: Verbrennerverbot. Es gab vergangene Woche einen Autogipfel in Brüssel. Glauben Sie, den Autobauern versprechen zu können, dass das Verbrennerverbot ab 2035 doch noch gekippt wird?
Reiche: Wir haben uns dafür starkgemacht. Es kommt jetzt auch der sogenannte Review, also die Überprüfung dieses Ziels noch in diesem Jahr, um 2026 zu einer Lösung zu kommen, die es erlaubt, auf eine Vielfalt von Technologien zurückgreifen zu können. Die Automobilbauer wissen selbst, dass der batterieelektrische Antrieb eine wichtige Lösung für den Personenverkehr ist. Sie wissen aber auch, dass sie über Technologien verfügen, wie Range Extender, wie hybride Antriebe, die ebenfalls einen Beitrag leisten können, Klimaschutzziele zu erreichen. Auf der IAA haben deutsche Mittelständler Range Extender, hybride Motoren vorgestellt, die wir ab 2035 nicht mehr einbauen dürften. Wir entwickeln etwas, was die ganze Welt nutzt, übrigens auch die Chinesen, und nutzen es hier nicht. Ich glaube, wenn uns die jüngsten Jahre etwas gelehrt haben, dann dass es nicht gut ist, nur auf eine Technologie zu setzen. Wir haben den batterieelektrischen Antrieb, wir können mit Range Extendern und wir können mit hybriden Antrieben Beiträge leisten und uns auch resilienter aufstellen. Und wir müssen über die Bestandsflotte sprechen. Nach 2035 werden über 30 Millionen Fahrzeuge im Bestand in Deutschland sein. Welchen Beitrag sollen die leisten, wenn wir keine nachhaltigen Kraftstoffe beimischen? Ich rate uns und den Europäern, den Blick für die Lösungsoptionen zu weiten. Das hilft der Automobilindustrie, das hilft den Zulieferern und das hilft dem Standort Deutschland.
WELT: Man merkt, dass Sie aus der Praxis kommen. Sie haben viele Ideen, was man tun müsste. Gleichzeitig hört man immer raus, unter welchen Zwängen Sie stehen, sowohl was den Koalitionspartner betrifft, die SPD, aber auch die EU. Wenn Sie eine wirtschaftspolitische Maßnahme ergreifen könnten, ohne Rücksicht auf irgendwen, ohne Kompromisse, welche wäre das?
Reiche: Die Energiewende kosteneffizienter zu organisieren. Das machen wir bei uns im Haus in Absprache mit dem Koalitionspartner. Dafür haben wir das Dossier. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit.
WELT: Sie führen jetzt ein Ministerium mit vielen Hundert Leuten. Davor waren Sie in der Wirtschaft tätig. Da waren Sie auch die Chefin von vielen Hundert Leuten. Was ist schwieriger?
Reiche: Sogar von vielen Tausend Leuten. Jede Aufgabe hat ihre Herausforderungen. Für ein Unternehmen verantwortlich zu sein, mit vielen Mitarbeitern für Investitionen verantwortlich zu sein. Auch für die Sicherheit von Mitarbeitern in Krisen reagieren zu müssen. Wie die Ahrtal-Überschwemmung, als plötzlich unsere ganze Infrastruktur weggeschwemmt wurde. Das waren auch große Herausforderungen. Ich konnte auf ein tolles Team zurückgreifen. Auch das Wirtschaftsministerium besteht aus engagierten Kolleginnen und Kollegen, mit sehr verschiedenen Kompetenzen. Was unterschiedlich ist, ist, dass man hier in Berlin mehr in der Öffentlichkeit arbeitet. Das war in NRW und Essen etwas anderes. Aber ich wusste, worauf ich mich einlasse.
WELT: Möchten Sie manchmal in die Tischkante beißen, wenn Sie sehen, dass man diesen oder jenen Hebel ziehen müsste, um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen? Aber es geht aus diesen politischen Zwängen nicht?
Reiche: Ich bin jetzt nicht da, um in die Tischkante zu beißen, sondern um Wege freizuschlagen. Dann konzentriere ich mich nicht darauf, Frust aufkommen zu lassen, sondern die Energie zu nehmen, um Dinge zu verändern. Dafür bin ich da. Dafür bin ich dem Bundeskanzler dankbar, dass er mir die Chance gegeben hat. Das werden wir tun.
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