Mit seiner Fundamentalkritik am Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft sorgte der Bundesrechnungshof zu Wochenbeginn für Verunsicherung in den Reihen der Energiewende-Protagonisten. Der klimaneutrale Energieträger sei als Ersatz für Erdgas, Öl und Kohle „absehbar nicht wettbewerbsfähig“, und zwar weder im Import noch in der Eigenproduktion, hatte die Bundesbehörde in einem Sonderbericht analysiert. Die in der „Nationalen Wasserstoffstrategie“ niedergelegten Ziele stellten ein „erhebliches Risiko“ für den „bereits aus den Fugen geratenen Bundeshaushalt dar“, warnte Rechnungshof-Präsident Kay Scheller. Es drohe „Dauersubventionierung“. Dabei sei sogar „unsicher, ob die gewünschte positive Klimawirkung eintritt.“
Die Rechnungsprüfer hätten ihr Urteil kaum zu einem ungünstigeren Zeitpunkt sprechen können. Wenige Tage bevor ein Sonderumweltrat der Europäischen Union auch im Namen Deutschlands ambitioniertere CO2-Sparziele für die bevorstehende Weltklimakonferenz in Brasilien beschließen will, erklärten die deutschen Kontrolleure den Wasserstoff-Weg in die Klimaneutralität praktisch für nicht begehbar.
Ökostrom-Verbände reagierten „mit deutlicher Kritik“ am Rechnungshof. „Eine heimische grüne Wasserstoffwirtschaft schafft Wachstumsperspektiven für deutsche Unternehmen, zehntausende neue Arbeitsplätze entlang der gesamten Wertschöpfungskette und verringert gleichzeitig die Abhängigkeit von Energieimporten“, verteidigte die Präsidentin des Bundesverbandes Erneuerbare Energie (BEE), Ursula Heinen-Esser den Energieträger. Als große, steuerbare Stromverbraucher sorgten die Elektrolyse-Anlagen zur Wasserstoffherstellung auch für die dringend benötigte „Flexibilität“ im Stromnetz.
Um diese segensreiche Wirkung zu entfalten, müssten die Elektrolyse-Anlagen freilich in Deutschland stehen. Und das tun sie selten: Einige der größten Projekte zur Wasserstoffnutzung beziehen den Brennstoff aus dem Ausland. Die Stahl-Holding-Saar (SHS) etwa will damit klimafreundlichen, grünen Stahl produzieren. Kern des Projekts „Power4Steel“ ist neben dem Bau von Lichtbogenöfen zur Schrottschmelze eine „Direktreduktionsanlage“, die keine Kokskohle braucht, sondern Wasserstoff. Geplant sind Investitionen über 4,6 Milliarden Euro, Bund und Land schießen 2,6 Milliarden Euro Steuergeld dazu. „Damit ist dieses Vorhaben das größte geförderte Projekt in der Geschichte des Saarlandes und das größte Projekt in der aktuellen Wasserstoffgeschichte der Bundesregierung“, preist das Wirtschaftsministerium das Vorhaben.
Importiert wird der Brennstoff allerdings aus Frankreich. In dem nur wenige Kilometer hinter der Grenze liegenden Ort Carling baut das Pariser Unternehmen Verso Energy dafür extra eine große Elektrolyseanlage mit 300 Megawatt (MW) Leistung und investiert 450 Millionen Euro. Pro Jahr sollen von dort 6000 Tonnen Wasserstoff über die Grenze zum Stahlwerk Dillingen transportiert werden. Der Anfang September geschlossene Importvertrag sei „ein Meilenstein für die Zukunft der saarländischen Stahlindustrie und unserer Region“, jubelte Ministerpräsidentin Anke Rehlinger (SPD).
Es hätte allerdings auch ein Meilenstein für die deutsche Wasserstoff-Industrie werden können – wenn die 300-Megawatt-Elektrolyseure auf deutscher Seite errichtet würden. Deutschlands „Nationale Wasserstoffstrategie“ sieht schließlich den Aufbau von 10.000 Megawatt Elektrolyse-Leistung im eigenen Land bis 2030 vor. Doch abgesehen von Planungen für zwei 300-MW-Projekten von RWE in Lingen und EWE in Emden ist noch nichts zu sehen. Fünf Jahre vor dem offiziellen Zieldatum 2030 sind erst 1,7 Prozent der geplanten Elektrolysekapazitäten am Netz. Die nötige Verfünfzigfachung der deutschen Wasserstoffproduktion in dieser Zeit war zwar ohnehin illusorisch. Sie wird es jedoch erst recht, wenn die deutschen Fördermilliarden indirekt auch noch Elektrolyseure im Ausland finanzieren.
Warum der französische Wasserstofflieferant die Ausschreibung gewann, ist nicht so offensichtlich, wie es auf den ersten Blick scheint. Grundsätzlich ist Strom in Frankreich natürlich billiger. Die Wasserstoff-Anlage von Verso in Carling soll mit einer 400.000-Volt-Leitung an das Umspannwerk in Saint Avold verbunden werden, das „im Normalbetrieb den Großteil seiner Energie aus dem Kernkraftwerk Cattenom bezieht“, wie die französische Umweltgruppe „The Shift Project“ im Beteiligungsverfahren feststellte. Insgesamt enthält das französische Netz einen billigen Mix aus 65 Prozent Kernkraft nebst 25 Prozent Wind- und Solarenergie.
Wird der grüne Wasserstoff für die saarländische Stahlindustrie etwa mit französischem Atomstrom produziert? Nach der Farbenlehre des Wasserstoffs trägt der Energieträger nur dann das Etikett „grün“, wenn die Produktionsanlage mit Ökostrom betrieben wurde. Um „roten Wasserstoff“ handelt es sich, wenn Atomstrom zum Einsatz kam. Beides ist erlaubt: Deutschland und Frankreich hatten den sogenannten Taxonomie-Streit um die Frage, ob klimafreundlicher Atomstrom nun öko ist oder nicht, irgendwann beigelegt. Nach einem Delegierten Rechtsakt der EU gilt der Strommix eines Landes jetzt als Grün, wenn er weniger als 18 Gramm CO2-Äquivalente pro Megajoule enthält. Das ist in Frankreich der Fall, dank der Atomenergie. Französische Elektrolyseure, die einfach den landesüblichen Strommix verwenden, können ihren Wasserstoff als kohlenstoffarm vermarkten. Der französische Elektrolyseur für Saarstahl hatte damit einen klaren Kostenvorteil gegenüber hiesigen Wettbewerbern: Weil der deutsche Strommix nach dem Atomausstieg verhältnismäßig schmutzig ist, verlangen die EU-Regularien, dass grüner Wasserstoff hier nicht mit Netzstrom hergestellt werden darf, sondern nur mit eigens dafür gebauten Wind- und Solaranlagen.
Doch Antoine Huard, Generaldirektor von Verso Energy hat von seinem Standort-Vorteil nicht einmal nicht Gebrauch gemacht: Die Elektrizität für den „Carlhyng“ genannten Saarstahl-Elektrolyseur werde über „Power Purchase Agreements“ (PPA) von Wind- und Solarparks in ganz Frankreich aufgekauft, oder selbst erzeugt, betont er auf Nachfrage. Es handele sich also nicht um Brennstoff aus „roter“ Nuklear-Elektrolyse, sondern um genuin als „grün“ zertifizierten Wasserstoff. Dass Verso Energy die Ausschreibung trotzdem gewann, überrascht. Ökostrom ist in Frankreich schließlich knapper als in Deutschland. Und es geht um riesige Mengen: Nach Berechnungen der französischen Grünen benötigt der Verso-Elektrolyseur mehr als 3 Milliarden Kilowattstunden im Jahr, was dem Stromverbrauch von mehr als 1,3 Millionen Menschen entspricht.
Was immer die Gründe sind: Frankreich bleibt für Wasserstoff-Produzenten der attraktivere Standort. Die saarländische Landesregierung wirbt in ihrer Wasserstoffstrategie zwar damit, dass bis 2032 „in der Region“ Elektrolyseure mit einer Leistung von 925 Megawatt stehen könnten. Doch das schließt Lothringen mit ein. Auf deutscher Seite werden es wohl nur 125 Megawatt Elektrolyse-Leistung sein, räumt die Landesregierung – kaum ein Siebtel der geplanten regionalen Investments.
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