Donald Trumps Handelskrieg ist für Deutschland besonders verheerend. Mit den USA droht der wichtigste Exportmarkt wegzubrechen. Das zwingt Berlin, neue Abnehmer zu suchen: Die deutsche Wirtschaft hat ihr Potenzial für Exporte in vielen Ländern längst nicht ausgeschöpft.

Donald Trumps Handelskrieg stürzt alle Länder der Welt in ein Dilemma: Wenn die USA als Absatzmarkt zunehmend wegfallen, müssen sie künftig mehr in andere Länder exportieren, wenn sie nicht auf Jobs und Wachstum verzichten wollen. Besonders groß ist das Problem für Deutschland. Denn die USA sind mit großem Abstand der wichtigste Exportmarkt für die deutsche Wirtschaft. Und auch wenn Trump seine Strafzölle für Europa bis 9. Juli ausgesetzt hat und etwa bereits Lockerungen bei den verhängten Autozöllen in Sicht sind, bleibt die Zollmauer zwischen Brüssel und Washington hoch - und damit der Ausweichdruck für deutsche Firmen.

Die Gretchenfrage ist nur: Wohin genau sollen sie künftig Autos, Maschinen oder chemische Produkte liefern, die bisher in die USA gegangen sind? Die Wirtschaftsforscher von Deutsche Bank Research nähern sich dem Problem auf kreative Weise. Denn obwohl es vielfältige Erklärungen für die Handelsströme zwischen Ländern gibt - sie reichen von komparativen Kostenvorteilen, Qualitätsunterschieden und historisch-kulturellen Verbindungen bis zu staatlichen Subventionen und Zöllen - sind sich die meisten Ökonomen einig, dass zwei vergleichsweise banale Gründe ausschlaggebend sind: Entfernung und wirtschaftliche Größe.

Deutschland handelt einfach mehr mit Holland als mit Brunei, weil Duisburg näher an Amsterdam liegt als an Bandar Seri Begawan. Und mehr mit Frankreich als mit Liechtenstein, weil die Wirtschaftskraft der Grande Nation mehr als 400-mal so groß ist wie die des kleinen Fürstentums in den Alpen, auch wenn sie in etwa gleich weit entfernt sind. Drei Viertel der deutschen Exporte lassen sich laut den Analysten mit den beiden Faktoren erklären.

Legt man nun die tatsächlichen deutschen Exporte neben die theoretischen Werte, die allein aus der geografischen Lage und Wirtschaftskraft des jeweiligen Handelspartners folgen, ergibt sich eine Art Chancen-Chart des deutschen Außenhandels. Je näher die jeweiligen Länder an der 45-Grad-Trennlinie liegen, desto mehr entsprechen die tatsächlichen deutschen Exporte dorthin dem theoretischen Exportpotenzial. Liegen sie darüber, exportiert Deutschland mehr in diese Länder, als räumliche Nähe und Wirtschaftskraft eigentlich vermuten lassen würden. Liegen sie darunter, exportiert Deutschland auffällig wenig in die jeweiligen Staaten - hier gibt es ungenutztes Potenzial für wachsenden Handel - wenn es sich politisch erschließen lässt.

Dieses einfache Modell liefert ein erstaunlich zutreffendes Bild. Es zeigt etwa, wie dominant die USA bislang für die deutsche Wirtschaft sind: Obwohl ein ganzer Ozean sie trennt, sieht sie im Land der unbegrenzten Möglichkeiten ähnlich großes Exportpotential (113 Prozent) wie in Frankreich (108 Prozent) - einem Nachbarland, mit dem in der EU sogar eine Zollunion besteht. Ein Beleg dafür, wie stark vernetzt die Wirtschaft diesseits und jenseits des Atlantiks trotz aller bestehenden Handelshürden heute ist - und wie gewaltig der Schaden durch Trumps Zollkrieg sein wird.

Liegt Deutschlands Zukunft in Indien und Kanada?

Der Gegenpol ist Russland: Wegen der Sanktionen nach Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine ist das Land für deutsche Exporteure heute ein viel kleineres Ziel, als es theoretisch sein müsste. Das Potenzial ist inzwischen fast siebenmal so groß wie die tatsächlichen Exporte gen Moskau. Und solange der Kreml ukrainische Zivilisten mit Raketen, Bomben und Drohnen tötet und die Sicherheit Europas bedroht, dürfte sich daran auch nichts ändern.

China liegt fast mittig auf der Linie. Auch hier geht also zwar noch etwas, das theoretische Potenzial für deutsche Exporte ins Reich der Mitte ist mit 94 Prozent aber nahezu ausgeschöpft. Kein Wunder: Schließlich haben deutsche Konzerne wie Volkswagen in den letzten beiden Jahrzehnten immer mehr Fabriken dort gebaut, und die wirtschaftliche Integration mit der Volksrepublik ist stetig gewachsen. Aufgrund der starken Abhängigkeit vom chinesischen Markt drängen Politiker und Manager aber immer mehr auf De-Risking in kritischen Bereichen. Auch wenn das Wachstumspotenzial nicht so groß ist wie in anderen Ländern: Allein die schiere Größe Chinas bedeutet aber, dass selbst ein geringfügiger Anstieg der Exportquote einen großen Impuls für die deutsche Wirtschaft bedeuten könnte.

Ganz ähnlich sieht es mit Japan (rund 74 Prozent) und Brasilien (rund 78 Prozent) aus. Auch hier bieten sich dank der vergleichsweise großen Märkte Gelegenheiten, den drohenden Ausfall von Exporten in die USA zu kompensieren. Seit Dezember liegen bereits konkrete Pläne für eine Freihandelszone zwischen der EU und dem südamerikanischen Mercosur auf dem Tisch. Mit dem Abkommen könnte ein Wirtschaftsraum mit 700 Millionen Menschen entstehen. Mit Japan hat die EU bereits 2018 ein Freihandelsabkommen (JEFTA) abgeschlossen.

Auch das Exportpotential nach Kanada schöpft die deutsche Wirtschaft nach dem Modell bislang nur unzureichend aus (57 Prozent). Mit der Wahl von Mark Carney zum neuen kanadischen Premierminister könnte sich auch das nun ändern. Er hat unmissverständlich klargemacht, dass Kanadas enge bisherige Beziehung zu den USA Geschichte ist und er eine engere Anbindung an Europa sucht. Auch mit Kanada besteht erst seit 2017 ein Freihandelsabkommen (CETA), das bislang nur partiell gilt, weil es wichtige EU-Länder wie Frankreich und Italien noch nicht ratifiziert haben. Trotzdem hat sich der bilaterale Handel seitdem stark intensiviert.

"Niedrig hängende Frucht"

Am meisten verschenkt Deutschland aber Exportpotential mit Indien (49 Prozent). Denn hier stocken die Verhandlungen zwischen Brüssel und Neu-Delhi über ein Freihandelsabkommen seit Jahren. Bis Ende des Jahres soll ein Entwurf vorliegen. Hohe Zölle zum Schutz der Landwirtschaft, von Medikamentenherstellern und der Autobranche sind die größten Hürden.

Die "wirklich niedrig hängende Frucht" ist laut Deutsche Bank Research aber Großbritannien: "Deutschland handelt gegenwärtig zu wenig mit dem Vereinigten Königreich angesichts seines Gewichts": Trotz der geografischen Nähe liegen die deutschen Exporte bei gerade mal rund 73 Prozent des Potenzials. Denn mit dem Brexit haben die Briten schon Jahre vor Trumps globalem Handelskrieg ohne Not selbst eine Zollmauer zum Rest Europas hochgezogen - und sich damit ähnlich in den Fuß geschossen wie nun die USA.

"Eine Wiederannäherung im Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich kann nicht früh genug kommen", urteilen die Deutsche-Bank-Analysten. Genau die ist auch schon in Vorbereitung: Am 19. Mai wollen London und Brüssel mit einer "neuen strategischen Partnerschaft" ihre Beziehungen auf eine neue Grundlage stellen - mit einem Verteidigungspakt und dem Wegfall von Exporthürden.

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