Umweht vom Charme der 70er-Jahre ist die Bundestagsfraktion der Linken in Gelsenkirchen in Klausur gegangen. In gelöster Stimmung stellte die Partei dabei das Regierungsversprechen vom "Herbst der Reformen" entschieden in Frage.

Die Linksfraktion will mit ihrer Klausurtagung ein Signal des Aufbruchs senden: Nach der Sommerpause geht sie in die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung. "Wir sind die rote Haltelinie gegen Sozialabbau und kämpfen für reale Verbesserungen im Leben der Menschen", sagt Fraktionschefin Heidi Reichinnek bei der Pressekonferenz zum Abschluss der Tagung.

Alexander Budweg, ARD Berlin, mit Details zur Fraktionsklausur der Linken

tagesschau, 03.09.2025 14:00 Uhr

Ein paar Stunden früher am Tag hat Parteichefin Ines Schwerdtner im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF vom "Herbst der Grausamkeiten" gesprochen, wo die CDU seit Wochen einen "Herbst der Reformen" verspricht.

Nur noch einen Prozentpunkt hinter den Grünen

Dabei steht die Kulisse des Hotels in Gelsenkirchen, das aus den 70er-Jahren stammt und erkennbar bessere Zeiten gesehen hat, in bemerkenswertem Widerspruch zur Situation der Linken.

Denn die sind immer noch auf Erfolgskurs: Die Fraktion ist auf 64 Mitglieder angewachsen, mehr als zwei Drittel davon sind zum ersten Mal in den Bundestag gekommen. Die Mitgliederzahl der jahrelang schwächelnden Partei hat sich mehr als verdoppelt, im aktuellen DeutschlandTrend liegt die Linke bei zehn Prozent - nur einen Prozentpunkt hinter den Grünen.

Einen Nachmittag und einen Vormittag lang ziehen die Abgeordneten sich in einen Konferenzraum zurück. Das Licht gelblich, die Wände bräunlich, kein Tageslicht. Nichts dringt nach außen.

Eine Pressekonferenz begleitet vom Charme der 70er-Jahre. Die Linken zeigen sich gelöst.

Während zu Zeiten des ewig schwelenden Konfliktes mit Sahra Wagenknecht die Presse manchmal schon informiert war, noch bevor die Saaltüren sich geöffnet hatten, war diesmal in Gelsenkirchen: nichts. In den Pausen herrschte gelöste Stimmung, ja, es gebe durchaus auch Kontroversen, aber über allem stehe das gemeinsame Ziel, linke Politik stark zu machen.

Mietendeckel und Mehrwertsteuersenkung

Isabell Vandre, Abgeordnete aus Brandenburg, sagt in einer Sitzungspause, das Wichtigste in der Parlamentarischen Arbeit in diesem Herbst sei die Verteidigung des Sozialstaates. Die Fraktion hat sich einiges vorgenommen: So will sie ihre Mietwucher-App weiter ausbauen, damit Mieter in möglichst vielen Städten sich gegen überhöhte Mieten zur Wehr setzen können. Außerdem will sie auch im Bundestag Anträge für einen Mietendeckel einbringen.

Ebenfalls auf der Agenda: Mehrwertsteuersenkungen für Lebensmittel sowie für Tickets im öffentlichen Personenverkehr. "Wir wollen das Leben für die meisten Menschen leichter machen", sagt Heidi Reichinnek. Das Geld dafür solle von den sogenannten Reichen kommen. Das T-Shirt mit der Aufschrift "Tax the rich" ("Besteuert die Reichen"), das Parteichef Jan van Aken gern in der Öffentlichkeit trägt, liegt an der Basis der gewachsenen Partei im Trend. Immer wieder ist davon die Rede, dass die mehr als 200 Milliardäre in Deutschland zur Kasse gebeten werden sollen und es schon unter Helmut Kohl eine Vermögensteuer gab.

AfD-Umgang: Auf jeden Fall zum Widerspruch verpflichtet?

Am Abend erfährt man, dass die Fraktion sich gerade intensiv damit auseinandersetzt, wie sie mit der AfD umgehen soll. Die offiziellen Sprachregelungen lauten: "Wir sind die Brandmauer gegen rechts" und "Klare Kante zeigen". Tatsächlich haben die Abgeordneten aber auch darüber diskutiert, wie man mit Provokationen umgeht. Lässt man sie ins Leere laufen, um der AfD nicht zusätzlich Aufmerksamkeit zu verschaffen, oder ist man als Linkspartei in jedem Fall zum Widerspruch verpflichtet? Das Thema werde die Linksfraktion weiter beschäftigen, heißt es.

Der Tagungsort im ehemaligen Maritim-Hotel Gelsenkirchen (heute Plaza Hotel) ist nicht zufällig gewählt: Aktuell sind viele Linkenpolitiker ohnehin in der Gegend auf Wahlkampftour, in Nordrhein-Westfalen stehen Kommunalwahlen vor der Tür. Da trifft es sich gut, dass die Partei sich aktuell dafür einsetzt, dass den Kommunen ihre Altschulden erlassen werden.

Allein in Gelsenkirchen beträgt die Schuldenlast 1,2 Milliarden Euro, rechnet NRW-Landessprecher Sascha Wagner vor. Christian Görke, Abgeordneter aus Brandenburg und früherer Landesfinanzminister, sagt: "Die Kommunen leben aus dem Dispo, und die Leute baden es aus: Sie sind die Leidtragenden, wenn es zu wenig Kitas gibt, die Schulen baufällig sind, die Schwimmbäder und Bibliotheken schließen müssen."

Gaza-Demo mit Aufruf gegen antisemitische Äußerungen

Gegenwind droht der Partei dabei womöglich Ende September: Gemeinsam mit israelischen, palästinensischen und anderen Gruppen aus der Zivilgesellschaft ruft sie zu einer Demonstration auf. Im Aufruf wendet sie sich zwar ausdrücklich gegen antisemitische Äußerungen, trotzdem geht sie ein gewisses Risiko ein, dass es dazu kommen könnte. Darauf bezieht sich laut Medienberichten auch die Kritik einer parteiinternen Arbeitsgruppe.

Doch in der Fraktion scheint der Aufruf nicht für Kontroversen zu sorgen. Vinzenz Glaser, Abgeordneter aus Baden-Württemberg und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, treibt aktuell vor allem das Leiden der Menschen im Gazastreifen um. Für ihn ist es ein Fortschritt, wenn die Linke dem wachsenden Unbehagen in der Bevölkerung darüber eine Plattform geben kann.

Am Morgen sehen einige etwas müde aus

Am Abend gehen Abgeordnete und Fraktionsmitarbeiter in die Hotelbar im weitläufigen Keller des Hotels. Kneipenquiz. Man hört sie klatschen und lachen bis in die Lobby hinein. Am Morgen danach sehen einige etwas müde aus. So stiftet man Zusammengehörigkeitsgefühl.

Kurz vor dem Ende der Klausur erzählt Jorrit Bosch aus Braunschweig davon, welche Herausforderungen an der Basis auf ihn warten. Noch immer geht es darum, die vielen neuen Mitglieder einzubinden und sie zu schulen, damit sie die Haustürgespräche weiterführen können, die der Partei schon im Bundestagswahlkampf genutzt haben.

Nach gut 24 Stunden brechen die Abgeordneten auf und lassen das 70er-Jahre-Hotel in Gelsenkirchen hinter sich. Die nächste Bundestagssitzung ist bereits für kommende Woche angesetzt.

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