Die Chefs der Regierungsparteien demonstrieren Einigkeit: Beim nachsommerlichen Koalitionsausschuss habe man sich neu kennengelernt. Jetzt wollen sie Gas geben. Aber Konzepte für Reformen fehlen.
Ein verpatzter Regierungsstart, die gescheiterte Wahl neuer Verfassungsrichterinnen und -richter, gebrochene Wahlversprechen beim Strompreis und öffentlicher Streit über die Reform des Bürgergelds: Der Sound von Schwarz-Rot klang zuletzt eher nach der gescheiterten Ampel.
Damit soll nun Schluss sein. Union und SPD demonstrieren Einigkeit, ganz besonders bei den Themen Wirtschaft und Sozialstaat.
Im Frühjahr hatte Kanzler Friedrich Merz (CDU) noch versprochen, dass spätestens zum Sommer hin eine bessere Stimmung herrschen würde - speziell in der Wirtschaft. Doch ein spürbarer Stimmungsumschwung ist ausgeblieben.
Nun hat die schwarz-rote Koalition einen "Herbst der Reformen" angekündigt und verweist nach wenigen Monaten im Amt auf ihre bisherige Bilanz: Knapp 50 von 62 Vorhaben seien auf den Weg gebracht, unterstreicht Merz nach einer zweistündigen Sitzung des Koalitionsausschusses. Neben ihm sitzen die SPD-Parteichefs Bärbel Bas und Lars Klingbeil sowie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU). 40 Minuten Pressekonferenz, bevor sie weiter beraten.
Selbstkritik vom Kanzler
Selbstkritisch sagt der Regierungschef, man habe zwar in kurzer Zeit viel erreicht, aber natürlich seien Fehler passiert. All das habe stattgefunden "zulasten des persönlichen Kennenlernens". Das Kennenlernen und sich Aussprechen über den verkorksten Start haben die Beteiligten, wie sie sagen, nun im Koalitionsausschuss nachgeholt. Offen und ehrlich, so Klingbeil.
Jetzt beschwören die vier Parteichefs Einigkeit. "Wir sind zum Erfolg für unser Land verdammt", betont Söder. Hintergrund ist auch, dass laut dem neuen ARD-Deutschlandtrend die Zufriedenheit mit der Regierung einen neuen Tiefpunkt erreicht hat.
Enormer Reformbedarf
Dabei sind die Probleme des Landes enorm. Die Wirtschaft schlägt Alarm. Die Rente muss reformiert werden. Die Ausgaben für Gesundheit und Pflege drohen zu explodieren. Das Geld wird knapp. Für den Haushalt 2027 hat Finanzminister Klingbeil eine Lücke von mindestens 30 Milliarden Euro ausgemacht, für das Jahr darauf sogar 60 Milliarden. Auch weil die Anreize für die Wirtschaft wie der Investitionsbooster erst einmal Steuerausfälle bedeuten.
"Wir haben verabredet, dass wir schnell ein Gesamtpaket vorlegen wollen", sagt Klingbeil. Wie das aussehen soll? Werden es Reparaturen am System oder grundlegende Reformen? Das müssen die Koalitionäre noch beraten.
Klingbeil hatte vorsorglich schon mal einen Brief an alle Kabinettskollegen verschickt: Sie sollen jeweils ein Prozent ihrer Budgets einsparen. Laut Kanzler Merz liegt das meiste Potenzial beim Bürgergeld. Zehn Prozent will er hier einsparen. Das wären fünf Milliarden Euro. SPD-Parteichefin und Arbeitsministerin Bas hatte das als "Bullshit" bezeichnet.
Nach der Aussprache haben beide offenbar einen gemeinsamen Kurs gefunden. Bis zum Ende des Jahres sollen Eckpunkte für eine Reform des Bürgergelds vorliegen. Das vorliegende System soll umgebaut werden zu einer neuen Grundsicherung.
Stahlgipfel und Treffen mit der Autoindustrie
Das größte Reizthema ist damit vorerst vom Tisch. Das soll auch den Neustart nach der Sommerpause ermöglichen. Die vier Parteichefs bemühen sich spürbar um versöhnlichere Töne. Der Unionskanzler in Richtung der SPD: "Wir wollen den Sozialstaat erhalten, wir wollen ihn reformieren und nicht zerschlagen." Die SPD-Parteichefin an die Adresse der Union: "Wichtig ist, dass wir die Priorität auf die Wirtschaft legen."
Als wichtiges Zeichen an die Industrie haben die drei Parteien einen Stahlgipfel verabredet: Unternehmen und Gewerkschaften an einem Tisch mit der Politik. Denn durch die US-Zölle und den internationalen Wettbewerb ist die Branche massiv unter Druck. Kanzler Merz will die Stahlproduktion auf Dauer in Deutschland erhalten.
Und noch eine Branche steckt tief in der Krise: die deutschen Autobauer und deren Zulieferer. Ebenfalls durch Zölle der USA und zunehmende Konkurrenz aus China. Auch für die Autoindustrie soll es ein Treffen geben. Laut Söder soll das nicht nur ein Kaffeeklatsch werden. Sondern es soll um Antriebstechnologie gehen, aber auch um autonomes Fahren.
Tempo für neue Infrastruktur
Damit die 500 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen für Infrastruktur möglichst zügig für die klimafreundliche Modernisierung etwa von Straßen und Schiene ausgegeben werden können, soll es bald ein Investitionsbeschleunigungsgesetz geben. Das "Zauberwort" heiße dabei, dass man "mehr oder weniger die gesamte Infrastruktur zum überragenden öffentlichen Interesse erkläre, sagte Merz. Damit lassen sich die Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzen.
Weitreichende Beschlüsse oder Konzepte für große Reformvorhaben haben Union und SPD beim ersten Koalitionsausschuss nach der Sommerpause hingegen nicht verabredet. Für nur einen Abend wäre das auch unrealistisch gewesen. Denn die Dinge sind ultrakomplex. Immerhin haben die Koalitionäre an ihrer Atmosphäre gearbeitet und ihren Kurs abgesteckt - als Basis für die Brocken, die noch vor ihnen liegen.
Eva Ellermann, ARD Berlin, tagesschau, 04.09.2025 05:53 UhrHaftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.