Legasthenie, motorische Schwierigkeiten, Autismus-Spektrum – die Musikpädagogin Sarah Perruchoud-Cordonier begrüsst Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Lernprofilen in ihrem Musikzimmer. Sie nennt es auch ihr «Labor»: «Hier teste ich mit meinen Schülerinnen und Schülern verschiedene Lernmethoden. Wir machen ganz viele Experimente.»

Seit 2012 steht es in der Verfassung: Alle Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit haben, Musikunterricht zu besuchen. «Aber wenn man aus einer herkömmlichen Musikhochschule kommt, ist man überhaupt nicht gebildet, was Lernschwierigkeiten angeht», erzählt Perruchoud-Cordonier. Deswegen besucht sie in Paris zusätzlich eine Spezialausbildung.

Die pädagogischen Schlüssel

Als sie ihre Töchter bekommt, stellt sie fest, dass auch sie besondere Bedürfnisse haben. Sie merkt, dass sie zuhause ähnliche Probleme hat wie mit ihren Musikschülerinnen und -schülern und fängt an, Anpassungen zu entwickeln – für ihre Lernenden und für zuhause.

Diese Methoden nennt Perruchoud-Cordonier «pädagogische Schlüssel». Mittlerweile hat sie diese zu einer Methodik weiterentwickelt und bildet Lehrpersonen darin aus. Was als Pilotprojekt an der École de Jazz et Musique Actuelle (EJMA) anfängt, ist heute auch eine eigenständige gemeinnützige Organisation: «M4all».

So unterschiedlich die jungen Lernenden sind, so unterschiedlich sind auch die Anpassungen, die sie anwendet. Perruchoud-Cordonier benutzt etwa Farben in den Partituren und an den Schlagzeugstöcken, um das Lesen und Spielen zu erleichtern.

Auch für Lernende mit physischen Beeinträchtigungen werden bei «M4all» Lösungen gesucht. Zum Beispiel haben Spezialisten für ein Kind mit motorischen Schwierigkeiten einen Handschuh produziert, an dem der Schlagzeugstock befestigt werden kann – so muss das Kind ihn nicht selbst greifen.

Integration im Gruppenunterricht

«Die Idee ist, dass alle Klassen an der EJMA gemischt sind,» so Perruchoud-Cordonier. Als Lehrpersonen hätten sie die gesellschaftliche Aufgabe, dass die Inklusion funktioniert. Ist ein Kind mit besonderen Bedürfnissen in einer Klasse dabei, werden am Anfang des Jahres Lehrpersonen, Eltern und Mitschülerinnen und -schüler informiert und aufgeklärt.

«Wenn man es den Kindern erklärt, dann ist es nicht mehr etwas Fremdes und sie haben keine Angst mehr. Dann ist das Kind mit besonderen Bedürfnissen einfach ein Kumpel, wie alle anderen», sagt Perruchoud-Cordonier.

Mehr als Musikunterricht

Die Musikpädagogin hat auf ihrem bisherigen Weg viel gelernt. Anfangs ging es bei den pädagogischen Schlüsseln spezifisch um Musik – mittlerweile hat sich das ausgeweitet. «Wir haben bei ‹M4all› verstanden, dass das Kind, das bei mir im Musikunterricht ist, dasselbe ist, wie im Fussballclub. Oder wenn es nach der Schule zu den Grosseltern geht», erklärt Perruchoud-Cordonier. Die Organisation bietet heute Kurse für alle an, die im Alltag mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen zu tun haben.

Auch für die Lernenden geht es über den Unterricht hinaus: Perruchoud-Cordoniers Ziel sei es, ihren Schülerinnen und Schülern beizubringen, dass die Anpassungen aus dem Musikunterricht auch anderswo anwendbar sind. «Wenn man dem Kind beibringt, sich selbst gut zu kennen, kann es eigenständig sagen, was es braucht», sagt sie. Eine Art Selbstermächtigung also.

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