Nein, die Kondensstreifen von Düsenflugzeugen sind nicht gemeint. Was dann? Und wer wirft sie an den Himmel? Das Umschlagbild gibt auch keinen Hinweis auf den kryptischen Buchtitel, zumindest nicht auf den ersten Blick. Weiße Vögel mit spitzen Schwingen wirbeln vor einer dunkleren Felsklippe. Nicht am Himmel. Der Autor, Bernhard Malkmus, ist Germanistikprofessor an der Universität Oxford. Mit dem Begriff „Himmelsstriche“ greift er zurück auf eine andere, bis ins 18. Jahrhundert geläufige Bezeichnung für Himmelsrichtungen. Geht es also um „Landstriche“, übertragen auf den Himmel?

Der klein gedruckte Untertitel verrät, dass das Buch „Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen“ handelt. Und zwar in Form eines Tagebuchs, das die Spanne eines Jahres von Mai 2022 bis Mai 2023 umfasst; es ist Malkmus’ Jahr an der nordenglisch-schottischen Küste voller Naturbeobachtungen, Begegnungen mit Menschen und Gedanken über das Geschehen und die Zukunft. Die Notizen sind im Stil des britischen ‚Nature Writing‘ gehalten – ein Umstand, der für Texte in Deutsch oft mehr Wunsch als Verwirklichung ist. Denn allzu leicht landen Versuche, die leichte Feder britischer Naturschilderungen nachzuahmen, in unzeitgemäßer, schwärmerisch-übertriebener Romantik.

Gutes Schreiben über Natur setzt solide Kenntnisse voraus. Nichts sollte hinzu oder hinein fantasiert werden, damit es sich gut liest. Bernhard Malkmus hat fundiertes Wissen. Er kennt die Vögel und ihre Lebensweisen und verfolgt seit vielen Jahren den Schwund ihrer Bestände. Mit den ‚Himmelsstrichen‘ setzt er anders als in fast allem, was seit Jahrzehnten über Natur- und Umweltschutz publiziert wird, nicht bei den Fakten an, sondern bei den Menschen.

See- und Küstenvögel setzen die Zeichen in den „Himmelsstrichen“ mit dem Erscheinen und gleichzeitigen Wiederverschwinden von Mustern und Figuren, die sie in größerer Flüchtigkeit als die Wolkenbilder erzeugen. In ihnen liegt der Schlüssel zum Verständnis seiner Texte, steckt der Kern seines Anliegens. Nicht allein Verstand und Vernunft sollen angesprochen und mit weiteren knallharten Fakten konfrontiert werden, sondern Empfindungen, die zustande kommen, wenn man Eindrücke wirken lässt, ganz spontan und unvorbereitet. Dann tun sich Wirkmächtigkeiten auf, die Bernhard Malkmus nahezubringen versteht. Sie gehören zum Eindrucksvollsten, was auf Deutsch über Natur geschrieben worden ist.

Vergleiche mit den „Subtilen Jagden“ von Ernst Jünger drängen sich auf. Denn wie dieser die Schönheit der Käfer in sprachliche Gemälde fasste, werden die „Himmelsstriche“ zu Klangbildern von Worten und Gefühlen, selbst wenn es nur um etwas ganz Einfaches, Normales geht, um den Ausblick auf eine Landschaft zum Beispiel: „Die Geologie unter unseren Füßen ist heute ins Himmelsgewölbe gekehrt: weichgrauer Kalk, von längst verschwundenen Meeren ausgewaschen, dazwischen dunkle Magmatropfen und dünne schwere Doleritplatten – das sind die Wolkenfarben, die über unseren Köpfen ausgespannt sind.“

Oder bei der Fahrt zum Brutfelsen der Basstölpel: „Aus dem Nichts auftauchend liegt plötzlich ein Basstölpel über unserem Boot in der Luft und hypnotisiert mich mit seinem Auge aus hellblauem Eis. Sein gleichmäßiger Flügelschlag, der jede Böe sofort geschmeidig ausgleicht, passt sich dem Tempo des Kutters an. Um uns herum immer wieder Sturzflüge. Dabei verjüngen die Vögel ihre kräftigen Körper hinter den Pfeilsitzen ihrer schwarzgeäderten diamantenen Schnäbel zu schier körperloser Energie und durchstoßen mit bis zu hundert Stundenkilometern die Wasseroberfläche.“

Bild für Bild laufen Eindrücke auf und schwellen zu einem Flutberg an. Der gespannte Erzählbogen von den Vogelfelsen an der britischen Küste, von den Basstölpeln, Lummen und Möwen, schließt sich am Ende damit jedoch nicht. Die Zeit läuft nach Abschluss dieses Ein-Jahr-Tagebuchs weiter. Kapitel für Kapitel bietet es Erzählungen und Gedanken von „Vogelgrippe“ und „Vogelperspektive“ über „Vogelrevier“ und „Vogelwissen“ bis zur Frage „Hast du einen Vogel? In Regensburg, wo ein wie aus der Zeit gefallener älterer Mann den Passanten Origami-Vögel mit der Frage anbot, lautet so ein Satz natürlich: „Un du, host du an Vogl?“ Das Buch ist ein Lesevergnügen. Es sollte wohldosiert gelesen werden, zum Genießen der Formulierungen.

Bernhard Malkmus: Himmelsstriche. Vom Leben der Vögel und Überleben der Menschen. Matthes & Seitz, 246 Seiten, 34 Euro

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