Zwei Menschen am Strand. Ein Liebespaar, mutmaßlich. Doch der norwegische Maler Edvard Munch hat sie „Die Einsamen“ genannt. Er hat die strahlend hell gekleidete Frau mit dem kupferroten Haar und den dunkel-düsteren Mann in deutlichem Abstand zueinander postiert. Es gibt keine ersichtliche Kommunikation zwischen den beiden gesichtslosen Rückenfiguren. Ist es Einsamkeit in der Zweisamkeit? Auch in Beziehungen kann man emotionale Distanz erleben, Isolation und Leere verspüren.
Munch (1863–1944) war ein Meister für gemalte Seelenzustände, die in der aktuellen Chemnitzer Ausstellung mit dem Titel „Edvard Munch. Angst“ geradezu programmatisch thematisiert werden. Es ist mit 140 Werken insgesamt, davon rund 100 Arbeiten von Munch, eine Blockbuster-Schau in der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas – und eine phänomenale Heimkehr. Denn fast 90 Jahre hat Chemnitz auf die Rückkehr seiner „Einsamen“ gewartet. Das Gemälde war 1928 von der Städtischen Kunstsammlung Chemnitz erworben worden, doch bereits 1937 musste es unter dem Druck der Nationalsozialisten wieder verkauft werden.
Damals wurde landauf, landab gegen „entartete Kunst“ in öffentlichen Sammlungen gehetzt. Munch stand auf der Liste der verfemten Künstler. Das Chemnitzer Gemälde verschwand durch den NS-Chefkunsthändler Hildebrand Gurlitt ins Ausland. Es gelangte dann in die Privatsammlung von Philip und Lynn Strauss, einem amerikanischen Sammlerpaar. Seit 2023 gehört es dem Busch-Reisinger Kunstmuseum der Harvard University in Cambridge, Massachusetts.
Das 1906 gemalte Motiv der „Einsamen“ existiert, wie fast alle Munch-Werke von „Der Schrei“ bis „Der Kuss“, auch in grafischen Variationen. Außerdem gibt es zwei weitere Gemäldefassungen, wovon eine im Munch-Museum in Oslo hängt und eine im Museum Folkwang in Essen, in den 1960er-Jahren erworben.
Doch Chemnitz – und das gehört im Kulturhauptstadtjahr zu Recht in Erinnerung gerufen und gewürdigt – zählt zu den Wegbereitern der Munch-Begeisterung in der deutschen Provinz. Denn neben einem Lübecker Augenarzt namens Max Linde, der das Talent des Norwegers früh erkannte, war es Herbert Eugen Esche, Textilunternehmer im „sächsischen Manchester“, der Edvard Munch 1905 in seine Chemnitzer (vom belgischen Jugendstilkünstler Henry van de Velde gestaltete) Villa einlud, um seine Familie porträtieren zu lassen.
Dass zwischen 1906 und 1929 gleich sechs große Munch-Ausstellungen in Chemnitz ausgerichtet wurden, spricht für sich. Der Munch-Enthusiasmus der privaten Mäzene erreichte auch die öffentliche Hand in Gestalt von Friedrich Schreiber-Weigand, dem späteren Direktor der Städtischen Kunstsammlungen, der es verstand, moderne Kunst (die damals durchaus nicht jedermanns Sache war) durch gezielte Ankäufe in den musealen Kanon zu integrieren.
Munch revolutionierte die Geschichte der modernen Kunst, weil er – so radikal wie keiner vor ihm – innere Befindlichkeiten malte, für die sich damals sogar eine neue Wissenschaft interessierte: Sigmund Freuds Psychoanalyse. Heute ist Einsamkeit zum Modethema für Medien und Politik geworden (bis hin zu offiziellen „Einsamkeitsbeauftragten“), und psychische Selbstdiagnosen von „Ghosting“ bis „Asperger“ sind zum Trend in den sozialen Netzwerken avanciert. Munchs Bilder wirken dagegen fast schon subtil.
Seine Werke werden in der Chemnitzer Ausstellung durch eindrückliche Arbeiten zeitgenössischer Künstler wie Georg Baselitz und Neo Rauch ergänzt. Und natürlich darf im Zeitalter der „Me-Themen“ auch die Einladung zur Selbstfindung nicht fehlen. Unter dem Motto „Munch. Angst. And what about you?“ fragt eine interaktive Station: „Wenn du keine Angst hättet, was würdest du unbedingt tun?“
Jeder kann seine Antworten auf diese und andere Fragen in ein Laptop eingeben und bekommt daraufhin ein KI-generiertes digitales Kunstwerk als Ausdruck der eigenen Seele auf eine Leinwand gebeamt. Außerdem kann man Workshops zum Thema „Schreien, aber richtig!“ belegen. Vielleicht tritt man aber auch schlicht und einfach als Betrachter aus der Ausstellung und staunt, wie suggestiv es den Chemnitzer Machern gelungen ist, einen traditionell unter der Brille „Genie und Wahnsinn“ rezipierten Klassiker der Moderne in unsere Selfcare-Zeit zu übersetzen.
„Edvard Munch. Angst“, bis 2. November 2025, Kunstsammlungen am Theaterplatz, Chemnitz; Katalog, Hirmer, 38 Euro.
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