Nach dem Super-Gau vom November 2024 hat sich die Demokratische Partei in Amerika im großen Ganzen auf folgende Erklärung geeinigt: Kamala Harris war schuld. Hätte sie doch, wäre sie doch oder hätte sie nicht! Zum Beispiel: Warum ist Kamala Harris nicht im Podcast von Joe Rogan aufgetreten? Rogan, der zu einer politischen Szene gehört, die in Amerika „Manosphäre“ genannt wird, also vor allem junge Männer mit Meinungen versorgt, hätte die Präsidentschaftskandidatin gern als Gast gehabt. Wegen Terminschwierigkeiten kam es dann nicht dazu.

Donald Trump hingegen trat bei Joe Rogan auf, und es gelang ihm, zwei Stunden lang nicht völlig wahnsinnig zu klingen. Im November 2024 rief Rogan dazu auf, Trump zu wählen, und viele junge Männer ließen sich das gern gesagt sein. Übrigens nicht nur Weiße.

Oder: Hätte Kamalas Wahlkampfteam doch irgendwie auf das Wahlkampfvideo über Transsexuelle reagiert! Das Video riss eine Äußerung von Kamala Harris aus dem Zusammenhang: Sie hatte sich 2019 dafür ausgesprochen, dass Transsexuelle, die ihr Geschlecht ändern wollen, dies auch im Gefängnis tun dürfen, was einfach der Gesetzeslage entsprach; das entsprechende Gesetz war – nebenbei – unter Trump erlassen worden.

Dem Wahlkampfvideo der Mannschaft von Trump gelang es nun, dies so darzustellen, als stünde Harris vor allem dafür, illegalen Einwanderern auf Kosten des amerikanischen Steuerzahlers Geschlechtsumwandlungen zu ermöglichen. Die Demokraten fanden es nach allerlei Beratungen unter ihrer Würde, auf diesen Blödsinn zu reagieren. Aber das entsprechende Video lief dutzendfach vor und nach Sportsendungen und fand großen Anklang, vor allem unter konservativen Latinos.

Noch ein Fehler. Hätte Kamala Harris, als ihr in der populären Vormittagssendung „The View“ die Frage gestellt wurde, ob ihr irgendetwas aus ihrer Zeit als Vizepräsidentin leidtue, vielleicht eine andere Antwort geben können als: Ihr falle partout nichts ein? Das ließ sie arrogant aussehen.

Sie wollte aber auf keinen Fall Joe Biden verraten, den sie ehrlichen Herzens mochte; sie wollte nicht sagen, der Alte habe lauter Mist gebaut, und sie würde es als Präsidentin ganz anders machen. Die Weigerung von Kamala Harris, Biden in die Tonne zu treten, war ehrenwert, aber politisch unklug. Im Nachhinein werten manche Kritiker das sogar als ihr größtes Manko.

Ein Buch mit dem schlichten Titel „2024“ trägt uns jetzt Woche für Woche noch einmal durch jenes Jahr, in dem die Demokraten alles verloren und Trump wieder an die Macht kam. Wir erleben die Momente wieder, die eigentlich unvergesslich sein sollten, aber schon wieder halb aus dem kollektiven Gedächtnis geglitten sind. Die Schüsse auf Trump, nach denen er wie ein Triumphator wieder aufstand. Als Unbesiegbarer, als Messias. Die peinliche Debatte, in der Joe Biden – übernächtigt, geschlaucht von einer langen Europareise, wahrscheinlich auch schon mit den ersten Symptomen einer Covid-Grippe – wie ein debiler Trottel aussah. Die Rache der Kamala Harris, die Trump mit charmantem Lächeln lauter Fettnäpfchen in den Weg rückte, in die er dann vor den Fernsehkameras folgsam hineintrat.

Lässt man all dies Revue passieren, drängt sich die schreckliche Frage auf: War es vielleicht unvermeidbar?

Die Demokraten unterschätzten von Anfang an die Wut, die viele Amerikaner auf Joe Biden hatten. Sie fanden ihn nicht nur zu alt (auch Trump ist ein alter Mann). Sie verziehen ihm vor allem die Inflation nicht. Da Amerikaner wenig Notiz von der Welt außerhalb Amerikas nehmen, war den meisten nicht bewusst, dass es sich hier um ein weltweites Problem handelte; dass die Inflation in Amerika tatsächlich geringer war als etwa in Europa; dass es sich hier um eine Spätfolge der Pandemie handelte.

Dass die amerikanische Wirtschaft (mit der Zeitschrift „The Economist“ zu sprechen) der „Neid der ganzen Welt“ war; dass in Amerika so viele Arbeitsplätze geschaffen wurden wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr; dass die Reallöhne zum ersten Mal seit den Achtzigerjahren stiegen; dass die Inflation am Ende der Präsidentschaft von Joe Biden unter Kontrolle gebracht war – all dies wussten die Amerikaner nicht. Weil es ihnen niemand sagte. Auch als linksliberal geltende Medien (die „New York Times“ etwa) versteckten die Erfolgsmeldungen auf den hinteren Seiten, um nicht parteiisch zu wirken.

Allerdings ist auch die Geschichte vom unvermeidlichen Wiederaufstieg des Donald Trump ziemlich fragwürdig. Denn sie entlässt die Republikanische Partei aus ihrer historischen Verantwortung. Was, wenn die Republikaner sich frühzeitig von ihm distanziert hätten? Eine Zeit lang sah es so aus, als würde Ron DeSantis Trump beerben: der Gouverneur von Florida, der Trump an grimmig-ideologischer Festigkeit allerdings noch übertraf und übertroffen hätte. Aber was wäre gewesen, wenn die Republikaner anstelle von Trump Nikki Haley aufgestellt hätten, die zwar gelegentlich wie eine rechte Kulturkämpferin klang, insgeheim aber eine moderate Konservative war? Amerika wäre heute ein anderes, ein besseres Land.

Der wichtigste Satz in „2024“ versteckt sich womöglich auf Seite 32 in einer Klammer. Dort ist von einem „Trump-freundlichen konservativen Echosystem in den Medien“ die Rede. In Klammern heißt es dann: „Die Demokraten hatten nichts, was dem entsprach.“ Bitte: Wie gewinnt man Wahlen, wenn die eine Seite über eine moderne Lautsprecheranlage verfügt, während man selber eine winzige Flüstertüte in die Hand gedrückt bekommt?

Josh Dawsey, Tyler Pager, Isaac Arnsdorf: 2024. How Trump Retook the White House and the Democrats Lost America. Penguin Press, 416 S., ca. 22 $

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