Als er mit seiner alten Band wieder in Wacken auf der Bühne steht, freut Mille sich über die jungen Menschen vor und unter ihm im Matsch. Miland „Mille“ Petrozza fragt, wie viele von ihnen vor 1989 auf die Welt kamen. Sehr viele. Mille strahlt und schreit: „Wir wurden ganz bestimmt vorher geboren, vor 1989!“ Aus dem Jahr stammt einer ihrer Klassiker, „Extreme Aggressions“, den er mit Kreator dann auch in den schwarzen Himmel über Wacken donnert.
Ein Sensorium für Zeitenwenden hatten Mille und Kreator immer schon. Wie Seismografen für die Ausbrüche eines launischen Weltgeists klangen ihre Alben. Im Frühherbst 2001, als in New York die Türme angegriffen wurden, erschien „Violent Revolution“, als 2009 die Immobilienblasen platzten und die Banken kollabierten „Hordes of Chaos“ und 2012, als sich der Populismus in Europa aus den Schmuddelecken wagte, „Phantom Antichrist“. Zuletzt veröffentlichten sie zum Drall der Welt nach rechts „Hate über alles“.
Nun könnte man sagen, Metal, von Black über Death und Thrash bis Heavy, sei in allen Krisen, Kriegen, Katastrophen von Natur aus nah am Nerv der Zeit mit seinen im Geschützdonner von Trommeln, Bässen und Gitarren dargebotenen Untergangsszenarien. Das mag schon sein. Kreator aber wäre nie eine der größten deutschen Bands der Welt, der Ruhrmetall-Exportschlager schlechthin, wären sie nur wie alle anderen. Extrem und aggressiv. „Kreator – Hate & Hope“, ein warmherziges Filmporträt von Cordula Kablitz-Post, berühmt für ihre Dokumentationen heimischen Kunstschaffens, von Schlingensief bis Scooter, erklärt eindringlicher, was es mit den Veteranen aus dem alten deutschen Westen auf sich hat.
Mit einer Einordnung durch internationale Zeugen fängt es an. Chuck Billy, Sänger der Band Testament aus Kalifornien, sagt, Kreator seien bereits vor den sogenannten Big Four dagewesen, vor Metallica und Slayer, Megadeth und Anthrax. Für Anthrax beschreibt ihr Gitarrist Scott Ian den Thrash Metal von Kreator: „Es ist nicht immer der gleiche Lärm. Ihr Lärm ist sehr verschieden!“ So reisen sie als Legenden um die Erde. Man sieht sie in Tokio alles Mögliche signieren und verweinte Fans umarmen. Im indischen Bangalore werden sie beim Metal-Open-Air begrüßt wie Götter.
Mille, ein gedrungener älterer Herr, der auf die 60 zugeht, mit gefärbtem Haar, sieht sich inzwischen mehreren Generationen gegenüber, die in ihm einen Messias sehen. Das hat weniger mit der Musik allein zu tun, der bachschen, uhrwerkhaften Präzision und der Kraft der zwei Basstrommeln, die alle Welt von deutscher Wertarbeit erwartet. Es ist ihre Haltung, und es sind die Lieder, die Mille seit 40 Jahren schreibt. Oder wie Jürgen „Ventor“ Reil, sein alter Freund und Schlagzeuger, es immer noch bewundernd ausdrückt: „Wat der sich so aus’n Fingern saugt!“
Bereits „Thrash Altenessen“, Thomas Schadts Dokumentarfilm, zeigte 1989, wie Kreator zu Kreator wurden. Junge, langhaarige Bandgründer in Leopardenstrumpfhosen beherzigten die Ratschläge der Väter, sich vom sterbenden Bergbau fernzuhalten, von der Arbeit unter Tage überhaupt, und kauften sich vom Tagelohn im Pflegedienst oder Getränkemarkt elektrische Gitarren. „Hate & Hope“ zeigt wieder Ausschnitte. Wie einer sagt, dass Aggressionen ihn nur auch auf dem Arbeitsamt heimsuchten. Andererseits sei das Musikmachen nichts anderes, als in der Zeche zu malochen. Auch nach 40 Jahren probt die Band noch in der stillgelegten Zeche Carl. Mille und Ventor als Väter der Band und ihre ultravirtuosen Nachzügler Sami Yli-Sirniö, ihr Gitarrist aus Finnland seit 2001, und der Bassist Frédéric Leclercq aus Frankreich seit 2019, der sich im Film von Ventor persönlich sein Kreator-Tattoo stechen lässt.
Passend zu „Hate & Hope“ veröffentlicht Mille Petrozza seine Memoiren. „Your Heaven, My Hell“ erzählt seine Geschichte als Sohn eines Gastarbeiters aus Kalabrien und einer republikflüchtigen Sächsin aus der DDR. Zum einen räumt der Sänger, Gitarrist und Dichter mit der Ruhrpott-Klischees auf: „Wenn ich die Augen schließe und an früher denke, sehe ich Farben, viel Natur, Bäume. Grau war nur der Winter.“
Er schreibt aber auch: „Die Subkulturen der Siebziger- und Achtzigerjahre trafen in meiner Jugend auf Zechensterben, Gewalt, Alkoholismus sowie Perspektivlosigkeit auf der einen und wirtschaftlichen Aufschwung auf der anderen Seite. Heavy Metal krachte da für mich irgendwann einfach so rein und hat mich vermutlich vor einigem bewahrt.“ Sie wollten einfach anders sein als alle anderen, Mille, Ventor und ihre Kumpel, die kamen und gingen und Kreator durch die Zeiten trugen.
Der Film zeigt sie als heimatverbundene, bodenständige Weltbürger in den veganen Restaurants zwischen Berlin und Hollywood, wenn sie in Asien ihre Dämonen für die Bühne ausblasen und ihre „Flag of Hate“ hissen und beim „Klash of the Ruhrpott“ mit Destruction, Sodom und Tankard in Gelsenkirchen als Teutonic Big Four auftreten. Auch dahin kommen alle, ihre Anhänger aus Asien, Australien und Lateinamerika. Die stärksten Szenen hält die Kamera in Thüringen fest, bei Weimar. Mille und Maik Weichert von Heaven Shall Burn aus Saalfeld steigen auf den Ettersberg und irren durch den Nebel der KZ-Gedenkstätte Buchenwald. „Arbeit macht frei?“ Mille ist fassungslos. „Jedem das Seine?“ Metal als Musik entstehe aus der Wut heraus, über das Unmenschliche, Zynische. In einer Krypta voller Schädel und Gebeine sagt der Sänger: „Satan ist real.“ Er sagt, ihn nerve die Stimmung im Land, menschenverachtende Parteien und ihre Wähler.
Nicht alle, die Metal im Großen und Ganzen und Kreator im Speziellen mögen, sind für Politik zu haben. Mille hält ihnen entgegen: Es gehe einfach um Humanismus. In Hymnen wie „Dying Planet“, „Crush the Tyrants“ und „Killer of Jesus“ dreht sich eine Dialektik um sich selbst, um Aggression und Hass, die anspruchsvoller ist als alles, was man unter engagierter Kunst versteht. Im Metal haust das Böse. „Insofern liegt eine schöne Ironie in der Tatsache, dass Heavy Metal für mich das exakte Gegenteil war“, schreibt Mille in „Your Heaven, My Hell“: „Heavy Metal hat mein Leben gerettet.“ Und wer weiß, wie viele noch.
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