Etwas verändert sich an diesem 29. August 2004, der Himmel über Berkshire ist an diesem Abend grau, aber die rund 60.000 Menschen, die sich am Themse-Ufer eingefunden haben, sind auffallend gut gelaunt, als die Lostprophets die Bühne betreten. Die walisische Band hat es geschafft. Sie steht auf den heiligen Brettern von Reading, einem der bedeutendsten Festivals der Welt. Und dann spielen sie an diesem Sonntag auch noch zur Primetime, nach ihnen folgen nur noch die Headliner des Festivals. Green Day. 50 Cent. Placebo. Das ist die Liga, in der man mittlerweile angekommen ist.
Einheitlich gekleidet in einem militärisch-anmutenden schwarzen Look, dirigieren die Lostprophets ihr Publikum, wie Puppenspieler, keine Sekunde besteht auch nur der geringste Zweifel daran, dass sie es komplett in der Hand haben. Ihren größten Hit haben sie schon frühzeitig in ihr Set eingebaut, gleich nach dem Auftakt der Show stimmen sie also „Last Train Home“ an und die ohnehin euphorisierte Masse brüllt jetzt so laut mit, dass man die Band kaum noch verstehen kann.
„Sometimes it feels like I don’t really know what’s going on“, singt der Kopf der Band, Ian Watkins, gegen das Publikum an und man sieht deutlich, wie ergriffen er in diesem Moment nicht bloß von der Situation ist, sondern wahrscheinlich auch ein Stück weit von sich selbst. Nach dem Auftritt ist auch die britische Musikpresse euphorisiert. Sie sprechen von einem Siegeszug der Band, von dem ultimativen Durchbruch.
An diesem 29. August 2004 haben die Lostprophets endgültig realisiert, dass sie es geschafft haben. Dass ihnen der Sprung von einer lokalen Underground-Band in den Mainstream gelungen, dass ihr Plan aufgegangen ist. Sie haben ihren musikalischen Kern, der irgendwo zwischen NuMetal und Posthardcore mäanderte, erweitert und sich an den Zeitgeist angebiedert, der von Emo geprägt war. Plötzlich trug Watkins schwarzen Seitenscheitel und ließ sich die Haare ins Gesicht fallen. Es funktionierte.
2004 gehören die Waliser zu den wichtigsten Bands Großbritanniens. Ihre Alben verkaufen sich millionenfach, sie stehen an der Spitze der Charts, ihre Songs laufen bei MTV auf Heavy Rotation, nicht nur in ihrer Heimat, auch international. Selbst in den Vereinigten Staaten werden sie für große Touren gebucht. Reading hat alles verändert. Die Band denkt jetzt anders. Größer. Ihr nächstes Album „Liberation Transmisson“ entfernt sich noch weiter von ihrem Ursprung. Sie schreiben jetzt Hymnen für die breite Masse.
Die Lostprophets wollen raus aus der Szene und rein in den kommerziellen Massenmarkt. Sie wollen zu den ganz großen Rockstars gehören und so verhalten sie sich auch. Besonders Watkins fängt an sich zu verändern. Sein Leben wird zu einem einzigen, großen Exzess, befeuert aus einer Mischung aus Alkohol, Drogen, Sex und der Sucht, immer noch einen Schritt weiterzugehen. Wie im Rausch jagt er den Extremen hinterher, verbringt vermeintlich zurückgezogen Tage in luxuriösen Hotels. Das geht ein paar Jahre so, dann fressen die Extreme ihn auf. Watkins war nicht nur einer der größten Rockstars des Landes. Er hatte in dieser Zeit auch jede nur denkbare moralische Grenze überschritten.
Er habe kein Baby vergewaltigt, sagt der Sänger, er habe es nur versucht
Am 19. Dezember 2012 wird er verhaftet, ein Jahr später steht er vor Gericht. Die Liste der Vorwürfe gegen Watkins ist lang. Er solle insgesamt mindestens zwölf Kinder und ein Säugling missbraucht haben, zusätzlich wird ihm vorgeworfen, große Mengen an kinderpornografischem Material hergestellt, verbreitet und auf seinen Festplatten gehortet zu haben. Die Videos waren penibel kategorisiert. Unter den Darstellungen befand sich auch ein „extrem pornografisches Bild“, wie es in der Anklageschrift heißt, dass eine sexuelle Handlung mit einem Tier beinhaltete.
Neben Watkins sitzen noch zwei Frauen auf der Anklagebank, die dem Rockstar beinahe sektenhaft hörig waren und ihm Kinder – auch ihre eigenen – zuführten, die er anschließend missbrauchte. In mindestens einem Fall handelte es sich um ein nicht mal ein Jahr altes Baby.
Zunächst beteuert Watkins noch seine Unschuld, man versuche ihn zu dämonisieren, ließen seine Anwälte mitteilen, alles wäre nur eine große Kampagne gegen ihn. Er behauptete, ein verrückter Fan würde ihn verfolgen, man hätte seinen Computer gehackt und ihm das Material untergeschoben, aber als die Last der Beweise schließlich so erdrückend wird, dass es sinnlos erscheint, sie zu leugnen, entscheidet sich Watkins überraschend zu einem ausführlichen Geständnis. Seinen Vortrag schildern die Prozessbeteiligten als nur schwer erträglich.
Er wirkte demnach emotionslos. Watkins liest sein Geständnis von einem Blatt Papier ab. Einmal muss er dabei lächeln. Er gesteht alles, nur die Vergewaltigung des Säuglings leugnet er. Es blieb bei einer versuchten Vergewaltigung, beteuert der Sänger. Im Rahmen des Prozesses ließ sich ein Beamter zitieren, dass das der brutalste Fall an Kindesmissbrauch sei, den er in seiner gesamten Laufbahn jemals erlebt habe.
Auch die Chatprotokolle, die ausgewertet wurden, bestätigen das. Watkins träumte davon, mit einer seiner Gespielinnen ein Baby zu zeugen, dass er dann missbrauchen könne, er wolle dem Kind schon von Geburt an Crystal Meth geben, um es so daran zu gewöhnen. „Lass uns Meth besorgen und ein paar Kinder ficken“, schrieb er einer anderen Partnerin.
Dass Watkins Probleme hatte, wurde nach dem Höhepunkt der Lostprophets zwischen 2004 und 2007 immer offensichtlicher, der Sänger war schwer drogenabhängig, ließ immer wieder Shows ausfallen und litt unter dem damit einhergehenden Bedeutungsverlust der Band. Dennoch wollen seine Bandkollegen von den verstörenden Taten nichts gewusst haben. Als Watkins verhaftet wurde, lösten sich die Lostprophets auf. Die verbliebenen Mitglieder spielen mittlerweile in einer neuen Band. Sie heißt „No Devotion“. Keine Hingabe. Als Sänger springt Geoff Rickly ein, eine US-Posthardcore-Legende, besser bekannt als Frontmann der Band Thursday.
Seine Mitgefangenen bezeichnet er als „Abschaum“
Watkins wird derweil zu einer Gesamtstrafe von 35 Jahren verurteilt, die mitangeklagten Frauen bekommen 17 und 14 Jahre Haft. Doch auch im Gefängnis zeigt er sich offenbar wenig einsichtig, 2018 wird bei Watkins ein Handy gefunden, dass er über einen längeren Zeitraum in einer Körperöffnung versteckt hatte. Er hielt weiterhin Kontakt mit weiblichen Fans, die offenbar seine Beweggründe verstehen und ihn retten wollten. Einer schrieb er „it was lolz“, übersetzt so viel, dass alles ein großer Spaß gewesen sei und er der festen Überzeugung war, mit allem durchzukommen, schließlich war er ein Rockstar. Weiterhin schrieb er, dass er die ganze Aufregung eigentlich nicht verstehen könne.
In den Chatprotokollen wird aber auch deutlich, dass die Zeit im Gefängnis für ihn zur Hölle wird. Er sei oft ängstlich, schrieb er, bezeichnete seine Mitgefangenen als „Abschaum“, die ihm das Leben schwer machen würden. Übereinstimmenden Berichten seine Mitgefangenen zufolge muss Watkins Schutzgeld bezahlen. Im Knast konsumiert er weiterhin Drogen, im August 2023 wird er von drei Mitgefangenen angegriffen und über mehrere Stunden als Geisel gehalten, wohl, weil er bei ihnen Schulden in Höhe von rund 900 Pfund hatte. Schließlich stechen sie ihn mit einer angespitzten Toilettenbürste nieder. Er überlebt schwer verletzt.
Am Abend des 11. Oktober 2025 kam es zu einem erneuten Übergriff. Zwei Häftlinge attackierten ihn mit einem Messer, die genauen Hintergründe sind noch unklar, doch Ian Watkins verblutete an seinen Verletzungen. Er starb im Alter von 48 Jahren im HM Prison Wakefield. Ein Song seiner ehemaligen Band heißt, „To Hell We Ride“, vielleicht sollte der verlorene Prophet mit dieser Prognose recht behalten haben.
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