Bei der Lektüre des neuen, in den frühen 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts spielenden Romans von Thomas Pynchon kann man mitunter auf die Idee kommen, dahinter das Werk einer zugegeben sehr gut geprompteten Künstlichen Intelligenz zu vermuten. Vielleicht in dem Moment, wenn im Michigan-See ein österreichisch-ungarisches U-Boot aus dem Ersten Weltkrieg auftaucht, um einen vor Auftragskillern flüchtenden Kleinkriminellen in Sicherheit zu bringen.
Oder wenn der Privatdetektiv Hicks McTaggart auf einen versteckten Hobbyraum jugendlicher Technikfreaks trifft, die den Marinefunk abhören und aus Langeweile aus einer Ukulele eine E-Gitarre avant la lettre erfinden. Oder vielleicht wenn im versteckten Partykeller einer Bowlingbahn namens „NEW NUREMBERG LANES“ aus der Jukebox das Horst-Wessel-Lied in einer Swing-Version dröhnt.
Bei Pynchon ist es allerdings so, dass er keine KI braucht, sondern selbst ein Large Language Modell ist, trainiert seit nun mehr 88 Lebensjahren auf einer umfassenden Datenbasis aus Welt-, Pop- und Technikgeschichte, aus poststrukturalistischer Textwissenschaft und Hard-boiled-Kriminalromanen, aus Trivia der Konsumsphäre wie Weltverschwörungstheorie, wozu vor allem die Naherwartung eines bevorstehenden Endkampfs zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis gehört. Ah, und Baseball nicht zu vergessen!
Alle diese Ingredienzen des Pynchonesken finden sich auch in seinem neuen Roman. Das beginnt beim Titel, der sich in die Reihe ebenso prägnanter wie mehrdeutiger (und schwer übersetzbarer) Romantitel –„Gravity’s Rainbow“, „Inherent Vice“, „Bleeding Edge“ – reiht. Der englische Originaltitel „Shadow Ticket“ bezieht sich einerseits auf den heiklen Beschattungsauftrag, den Hicks von seinem Boss bei der in Milwaukee ansässigen Detektei „Unamalgamated Ops“ erhält: Zielobjekt ist die Millionenerbin Daphne Airmont, die mit dem jüdischen Klarinettisten einer Swingband durchgebrannt ist. Hicks, ein alter Schwerenöter nach bester Noir-Krimi-Art, hatte mit ihr einst ein kurzes, gleichwohl emotional folgenreiches Techtelmechtel, und übernimmt den Job entsprechend widerwillig.
Eine zweite mögliche Bedeutung von „Shadow Ticket“ wäre der Zugangscode, oder das Passwort zu einem illegalen Ort, einem „Speakeasy“, wie sie zu diesen Prohibitionszeiten überall zu finden sind. Der Roman ist so voll von solchen Hinterzimmern, versteckten Türen, doppelten Böden, dass sich der Leser irgendwann wie in einem Escape Game vorkommen kann, wo es gilt, die versteckten Ausgänge zu finden.
In einem höheren Sinne ist der Airmont-Auftrag für Hicks die Eintrittskarte in eine viel größere und um einiges gefährlichere Geschichte, da Daphne die Tochter des Multimillionärs und Milchprodukt-Großunternehmers Bruno Airmont ist, der der „Al Capone des Käses“ genannt wird. Die große Ära der Mobster geht in der Depression-Zeit der USA gerade zu Ende, und wie der Original-Capone seit 1931 im Gefängnis sitzt, ist jener des Käses mit einem Koffer voller Dollarnoten auf der Flucht. Hicks findet sich bald gegen seinen Willen auf dem Ozeandampfer „Stupendica“ gen Europa wieder, auf einer Jagd, bei der er selbst den Überblick verliert, wer ursprünglich wem welchen Auftrag erteilt hat und vor allem warum.
Der Firmenname „Unamalgamated Ops“, also „unvermischte“, besser „unabhängige Operationen“, ist ein ironischer Wortwitz, denn auf Hicks’ Reise über Jugoslawien bis Ungarn mischen sich der britische Geheimdienst und dann später auch Interpol in Gestalt eines dauerbekoksten Wiener Beamten namens Egon Praediger ein. Bruno Airmont ist nach seiner Emigration zu einer nicht nur polizeilich gesuchten Schlüsselfigur des „International Cheese Syndicats“ (InChSyn) geworden. Das wäre das Pendant zur omnipräsenten Düsterfirma „Yoyodyne, Inc“ aus Pynchons bahnbrechendem Frühwerk.
Vielleicht verbergen sich in den Löchern des Käses auch noch weniger harmlose Zwecke. Zumindest für die übersinnlichen Künste diverser Magier interessieren sich auch die Spione Stalins und anderer Potentaten: „Budapest ist im Augenblick die Metropole und das schlagende Herz von Asport/Apport-Aktivitäten, bei denen kostbare und gewöhnliche, exquisite und kitschige, große und kleine Gegenstände täglich zu Dutzenden verschwinden.“
Pynchons Mitteleuropa – ein Kosmos aus Zeichen und Wundern
Pynchon ist ein unübertroffener Meister darin, das Banale mit kulturkritischem Potenzial aufzuladen und zugleich in karnevalesken Albernheiten wieder allen Bedeutungsballast abzuwerfen. Auch hier gilt das Gesetz von Asport/Apport, der mühelose Transport von Symbolik quer durch die absurdesten Handlungsebenen. So stolpert Hicks mehr von einem Geheimnis zum nächsten, als dass er methodisch nach irgendetwas fahnden würde.
Wie ein mittelalterlicher Recke auf einer Aventiure reiht er Duell an Duell, Flirt an Flirt und tanzt virtuos Lindy-hop, wobei nie ganz klar wird, was bei seiner Queste eigentlich der Heilige Gral sein könnte. Hicks McTaggart ist ein ahnungsloser Parzival, gleichwohl unbesiegbar. Einmal erklingen irgendwo aus einem Fenster in Dauerschleife Richard Wagners Werke auf einer Zither: Pynchons Mitteleuropa ist ein Kosmos aus Zeichen und Wundern.
Im Zentrum dieses Kontinents findet eine permanente Motorradrundfahrt namens XT2K quer durch die Karpaten statt, ohne festgelegten Start- und Zielpunkt und selbst im tiefsten transsylvanischen Schneetreiben. „Manche Fahrer sind hier, weil sie nachrichtendienstliche Operationen, Aufklärungsmissionen oder kartografischer Arbeiten durchführen, manche sind Fanatiker, die XT2K als äußeren und sichtbaren Ausdruck einer künftigen geophysikalischen Erlösung betrachten“ – ein typischer Pynchon-Senkrechtstart vom Konkreten hinauf in eschatologische Sphären.
Der Roman, so unpolitisch die mit allerlei filmreifen Dialogen gespickte Handlung auch daherkommt, bewegt sich mal swingend, mal rasend durch die Kulisse eines sich zuspitzenden Weltbürgerkriegs. Antisemitismus und Faschismus brechen sich in Europa Bahn, zugleich bilden sich Geheimorganisationen, um als Fluchthelfer für die bereits vorhergesehenen Exilantenmassen zu dienen. Pynchons charakteristisches, an Benjamin oder Adorno erinnerndes Weltbild ist eine ständige Kippfigur aus Aufklärungsoptimismus und apokalyptischer Fortschrittskritik. Die Rationalität der Moderne, hier verkörpert von einem um Aufklärung bemühten Detektiv, braucht das Okkulte und Übersinnliche als ihr notwendiges Korrektiv.
In bedrohlicher Lage erwächst den taumelnden Figuren dieses Weltpanoramas oft Rettung aus unerwarteter Richtung. Wie einst der Deus ex machina auf der Theaterbühne erscheinen U-Boote, Zeppeline, Tragschrauber oder schwer motorisierte Mitfahrgelegenheiten. Wie man aus dieser immer verrückter werdenden Geschichte entkommen kann, ist die Frage, die Pynchon auch für die Gegenwart stellt.
Der aktuelle Zerfall Amerikas bildet den eigentlichen Hintergrund für ein mitteleuropäisches Märchen, in dem mithilfe höherer Mächte alles noch einmal gut ausgehen kann. Zum womöglich letzten Mal versammelt der große Schriftsteller alle seine magischen Kräfte, seine sprachgewaltigen Beschwörungsformeln, seinen Zaubertrank aus Witz und Geist und Geheimnis, um uns hier herauszuholen, aus einer heillos verloren scheinenden Welt.
Thomas Pynchon: „Schattennummer“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl und Dirk van Gunsteren. Rowohlt, 400 S., 26 Euro.
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