Es ist kurz nach zehn, an einem Samstag im Herbst 2025. Rosalía Vila Tobella aus Sant Esteve Sesrovires setzt sich auf eines der Sofas eines Fotoateliers im Norden von Madrid. Sie ist müde, hat seit Tagen nur wenig geschlafen. Und doch freut sie sich darauf, über ihr neues Album zu sprechen, „Lux“, über das die halbe Welt bereits geredet und spekuliert hat, bevor auch nur ein Ton davon zu hören war. Jetzt ist es erschienen.

Rosalía nimmt Platz, sie spricht leise und bedächtig. Wenn sie sich über etwas ereifert oder etwas besonders betonen will, bewegt sie sich auf dem Sofa hin und her oder hüpft sogar ein wenig hoch, was uns ein wenig um das Handy fürchten lässt, das auf ihrem Schoß liegt und sie aufnimmt.

„Lux“ enthält 18 Songs (15 in der digitalen Version, drei weitere auf der materiellen). Es gibt keine Loops und kaum Elektronik. Doch Gott ist da. Er selbst und die Vorstellung von ihm, die Rosalía aus unzähligen religiösen Schriften zu einem tönenden Tempel aufgebaut hat – vor allem aber mithilfe bedeutender Frauen, die zur Entwicklung der verschiedenen Glaubensrichtungen dieser Welt entscheidend beigetragen haben.

Der Glaube war in ihrer Arbeit schon immer präsent, allerdings noch nie in dieser musikalischen wie ethischen und ästhetischen Präsenz. Die Katalanin ist eine Künstlerin, wie man es im Zeitalter des Internets nur sein kann, ihr Album enthält Verse in 13 Sprachen. Es bietet Arien, Copla, ein Genre der spanischen Unterhaltungsmusik, Rumba, lyrischen Gesang, ein paar Anspielungen auf zeitgenössische religiöse Musik und sogar auf „Yeezus“ von Kanye West – ein Album, an dem vor zehn Jahren auch Musikproduzent Noah Goldstein mitgearbeitet hat wie nun bei der Produktion dieses kathedralenhaften Werks von Rosalía.

Aufgenommen wurde „Lux“ in Barcelona, Sevilla, Montserrat, Paris, Los Angeles, New York und Miami. Mitgearbeitet haben Gäste wie Sílvia Pérez Cruz, Estrella Morente, Björk (mit der sie 2023 schon gemeinsam den Song „Oral“ aufgenommen hatte), Guy Manuel de Homem Christo von Daft Punk, das Londoner Symphonie-Orchester, der Chor von „La Escolania de Montserrat“ und des „Orfeó Català“.

Mit „El mal querer“ brachte Rosalía 2018 den Flamenco in die Welt des R’n’B, Trap und Hip-Hop des 21. Jahrhunderts und inspirierte damit eine ganze Generation von Künstlern. Mit „Motomami“ ging sie 2022 an die Grenzen der lateinamerikanischen und urbanen Musik. „Lux“ dagegen ist ein ausgesprochen persönliches Projekt, das bei seiner Komponistin beginnt und endet.

„Lux“ beginnt mit einem martialischen Donnerwetter à la Wagner, vor allem aber mit Anklängen an Vivaldi und Bach. Das Erste, was die Welt von diesem Album hörte, war ein Song über die Hölle eines Berliner Techno-Clubs („Berghain“). Aber vielleicht ist die Hölle ja auch nur das Fundament des Himmels. Und vielleicht können wir ihr nur, wie Björk singt, mit Gottes Hilfe wieder entrinnen.

WELT: Wie entsteht so ein Album?

Rosalía: Ich habe darauf keine Antwort. Manchmal passieren Dinge, ohne dass man es wirklich weiß. Ich glaube, bei einem solchen Prozess ist man sich dessen gar nicht bewusst und hat schon angefangen, bevor man es wirklich merkt. Ich hatte schon immer einen Hang zur Spiritualität und war auch schon immer neugierig auf andere Sprachen. Und so habe ich mich immer mehr mit allen möglichen Schriften umgeben, mehr klassische Musik gehört, obwohl ich bereits während meines Musikstudiums von klassischen Musikern umgeben war. Auch das Wort „Lux“ schwirrte mir schon immer im Kopf herum. Plötzlich erkannte ich, was es für mich damit auf sich hatte. Das passierte während der Tournee mit „Motomami“. Es war so etwas wie: Jetzt erlaube ich mir, mich so zu fühlen. Jetzt ist der richtige Moment.

WELT: Der richtige Moment, nach innen zu schauen?

Rosalía: Ich hatte das Gefühl, zu viele Jahre damit verbracht zu haben, mich auf die äußeren Dinge zu konzentrieren. Ich hatte kaum noch Zeit zum Lesen. Ich habe ein ganzes Jahr nur mit Texten verbracht, lesend und schreibend. Ein weiteres Jahr dann mit Arrangements, der Produktion und den Aufnahmen. Das Jahr mit den Büchern und Texten war eine Zeit der Isolation, in der ich zu Hause geblieben bin und sonst nichts anderes getan habe. Ich habe meine Tage so einfach wie möglich gestaltet. Morgens ins Fitnessstudio, dann habe ich mir Frühstück gemacht und mich anschließend buchstäblich zum Schreiben hingelegt. Ich kann nicht im Sitzen schreiben, sondern nur im Liegen. Im Liegen, mit aufgestütztem Kopf, den Computer auf dem Schoß, den ganzen Tag.

WELT: Formt so ein Prozess auch den Charakter?

Rosalía: Ich würde sagen, dass ich eigentlich sehr viel kontaktfreudiger bin, als es meine Lebensweise vermuten lässt. Ich verbringe wirklich gern Zeit mit meinen Freunden. Aber mein Lebensweg geht eben in eine andere Richtung. Also habe ich das Jahr lang weit entfernt von meinem Geburtsort verbracht, von meiner Familie und meinen Freunden, allein. Den größten Teil des Albums habe ich in Los Angeles produziert. Es war beinahe so, als wäre es woanders gar nicht möglich gewesen. Persönlich ziehe ich es eigentlich vor, die Texte im Studio zu schreiben, wo ich mit meinen Freunden abhänge. Das ist einfach lustiger, doch auf diese Weise wäre ich nicht in der Lage gewesen, das hier zu schreiben und zu komponieren.

WELT: Wie macht man ein Album mit Versen in bis zu 13 Sprachen?

Rosalía: Ich spreche sie nicht. Ich kann nicht fließend Hebräisch. Zunächst sprudelt es einfach aus mir heraus. Dann benutze ich den Google-Translator oder schicke es einem Übersetzer. Er macht mir entsprechende Vorschläge, drei oder vier. Was ich phonetisch und musikalisch so nicht sagen kann, muss ich dann eben anders sagen. Es ist ein Puzzle. Ich habe auch versucht, in anderen Sprachen zu lesen, Texte von den Heiligen, die auf dem Album zu finden sind. Um ihre Schreibweise zu studieren und alles in mich aufzunehmen. Manchmal fielen mir dabei bestimmte Wörter ein. Und ich dachte, wenn sie mir so in den Sinn kommen, dann hat das seinen Grund.

WELT: Bestand nie die Gefahr, dass Sie nie fertig werden?

Rosalía: Wenn ich Songs schreibe, bleiben immer Lücken. Man legt einfach los und hat noch keine Ahnung, wie das Ergebnis aussehen wird. Man muss herausfinden, was fehlt, Lücken füllen, und wenn man das dann eine Weile liegen lässt, kommt einem vielleicht das Richtige in den Sinn. Fehler gibt es immer. Ich weiß, dass meine Arbeit nie perfekt sein wird, weil sie menschlich ist.

WELT: Ist es ein spirituelles Album – und ein polytheistisches? Oder geht es nur um die Idee, dass man unter Religion eher etwas verstehen sollte, das man sich selbst aus den bereits bestehenden Glaubensrichtungen zusammenstellt?

Rosalía: Diese Idee gefällt mir sehr. Tatsächlich würde ich gerne als Gasthörer Theologie-Vorlesungen an einer Universität besuchen. Wenn ich dazu genug Zeit hätte. Mich fasziniert die Idee der Postreligion, und dass es vielleicht eine inklusivere und offenere Art und Weise gibt, Glaube und Spiritualität zu verstehen. Mich persönlich sprechen gewisse Gedanken und Vorstellungen verschiedener Religionen an. Ich spüre das im Buddhismus, im Islam, im Christentum und im Hinduismus. In jeder dieser Religionen gibt es etwas, was mich berührt. Ich empfinde etwas. Diego Garrocho sagt, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, die wirklich Bedeutung haben, von der Erfahrung der Vergebung geprägt werden. Er meint auch, dass die Familie ein Bereich der Vergebung ist wie Freundschaft und Liebe. Das Begehren ist die Ursache des Leidens. Ich glaube, dass jede Religion verschiedene Dinge vermittelt, und sie interessieren mich alle gleichermaßen.

WELT: Kann man all das in 18 Lieder packen?

Rosalía: Ich würde es nicht wagen, meine eigene Beziehung zu Gott in Worte zu fassen, doch wenn ich den Mut dazu hätte, dann würde ich es in Form eines Albums tun, indem ich Songs komponiere. Die Liebe, die ich empfinde, und meine Verbindung zum Spirituellen kann ich am besten dadurch ausdrücken, dass ich Lieder schreibe. „Lux“ ist ein Album über die Liebe, zu der mich die Heiligen, mit denen ich mich befasst habe, inspirieren konnten. Weibliche Mystik. Es sind heilige Frauen aus aller Welt, aus den verschiedensten Kulturen und Religionen. Ich glaube, dass es in dem Album auch um andere geht und wie wir andere verstehen können.

WELT: „Lux“ lebt auch von einer gewissen Großzügigkeit?

Rosalía: Hoffentlich. Mein Traum war, die ganze Welt darauf zu vereinen. Wenn ich singe: „Ich passe in diese Welt, und die Welt passt in mich“, dann fühle ich das auch so. Dazu hat mich Rabia al-Adawiyya inspiriert, eine Sufi, einem mystischen Zweig des Islam, der mich besonders interessiert. Mir gefällt der Gedanke, Gott durch Gott selbst verstehen zu können und nicht aus Angst oder als Belohnung. Sich Gott um Gottes selbst Willen zu nähern. Ich fühle, dass meine Ängste dieselben sind wie die von jemandem in Japan, auch wenn dieser sie vielleicht auf andere Art und Weise in Worte fasst. Wir haben hier achtsilbige Strophen, wie man sie im Flamenco verwendet, dort hat man die Haikus.

WELT: Welche Rolle spielt die Dunkelheit in einem Album, das so voller Licht ist?

Rosalía: Wenn man das Licht erklären will, muss es auch Dunkelheit geben. Also muss man Raum dafür lassen. Pau Luque, der mich fasziniert, hat gesagt: „Ein Künstler, der neben dem Teufel einhergeht, mit der Hand auf dessen Schulter, kann unser Verständnis für das Böse erweitern.“ Wie Nick Cave, der dem Bösewicht eine Stimme gibt, versuche auch ich den Bösen zu verstehen und mich in ihn hineinzuversetzen. Ich glaube, dass ich in der Lage bin, mich in beides einzufühlen, ins Licht und in die Dunkelheit. Auf diese Weise kann ich auch das Licht besser erklären. Das Album hat vier Teile. Der erste Teil symbolisiert den Aufbruch. Der zweite Teil handelt von der Anziehungskraft des Weltlichen. Im dritten Teil geht es um die Gnade, die Freundschaft mit Gott. Teil vier ist der Abschied und die Heimkehr.

WELT: Am Ende stellen Sie sich ihre eigene Beerdigung vor. Sind Sie nicht noch zu jung, um darüber nachzudenken?

Rosalía: Es ist ja nur eine Fantasterei. Auch Heilige haben oft einen sehr unkonventionellen Lebensweg voller Opfer und werden erst nach ihrem Tod gefeiert. Das fand ich interessant. Beim Lesen der Hagiografien war der Tod für mich sehr präsent. Was würde ich mir für meine eigene Beerdigung wünschen? Mir wäre es am liebsten, wenn dabei alle eine schöne Zeit hätten und es sich gut gehen ließen. Auf dem gesamten Album suche ich nach dem Gleichgewicht oder der fließenden Grenze zwischen dem persönlichen und dem universellen. Und dann ist da noch das lyrische Ich aus der Sicht Gottes. Es ist absurd, ich weiß. Aber dafür habe ich ja auch meinen Humor.

WELT: Sie scheinen Beats und Loops geradezu vermeiden zu wollen. Es gibt fast keine elektronische Musik.

Rosalía: Loops wollten wir tatsächlich vermeiden. Es gibt auch keine Samples, nur eines von Patti Smith am Ende von „Yugular“. Dann gibt es noch ein eigenes Sample, das wir im Studio selbst kreiert haben. Wir wollten menschliche Musik für Menschen machen. Wenn dann doch einmal ein elektronisches Element auftaucht, dann nur als Textur. Es gibt keinerlei Künstliche Intelligenz auf diesem Album. Ich habe zwischendurch mal gedacht: Lass uns die KI ausprobieren, wenn es sie schon gibt. Wir lassen sie einen Vers schreiben, mal sehen, was sie daraus macht. Das Ergebnis war wirklich sehr enttäuschend.

WELT: Mehr Musik war nie auf Ihren Alben.

Rosalía: Es ist das Album, von dem ich wirklich wollte, dass es vor Kompositionen nur so strotzt. Musikalisch steckt darin mehr Arbeit als in allen anderen Alben.

WELT: Wie wichtig war das Klavier dabei?

Rosalía: Es ist das Instrument, mit dem ich am liebsten komponiere. Mein Instrument ist ja eigentlich meine Stimme. Die Alben werden um meine Stimme herum aufgebaut, doch das Klavier macht es mir möglich, Songs wie „Mio Cristo“ zu schreiben. Ich habe ein ganzes Jahr dafür gebraucht, bis ich dann endlich ins Studio gehen und sagen konnte: „Jungs, wie haben eine Arie!“ Das Klavier hilft, weil ich immer danach suche, wo und wie Harmonie und Melodie zusammenpassen. Ich nehme das Klavier sehr ernst.

WELT: Gibt es ein Instrument, mit dem Sie sich entspannen?

Rosalía: Am Bass. Bass spiele ich aus Spaß. Ich muss gar nicht fest drücken, um ihn zum Klingen zu bringen, sondern kann die Finger einfach darüber gleiten lassen. Ich bin zwar kein Bassist, aber ich genieße das sehr.

WELT: Und das Singen?

Rosalía: Ich wollte ein Album machen, bei dem ich meine Stimme bis an ihre Grenzen bringen kann. Darauf habe ich mich schon mein ganzes Leben lang vorbereitet. Während der Aufnahmen für das Album musste ich an meine Gesangslehrerin denken, mit der ich schon als 18-Jährige gearbeitet habe. Vielleicht habe ich erst jetzt die Art zu komponieren für meine Stimme gefunden.

WELT: Wie lässt sich „Lux“ live umsetzen?

Rosalía: Genau das ist jetzt die Millionenfrage. Ich habe drei Hefte mit Entwürfen und Ideen. Mal sehen, ob es funktioniert.

WELT: Ob es funktioniert?

Rosalía: Ob es funktioniert. „Motomami“ war minimalistisch, „Lux“ ist maximalistisch, ja sogar brutalistisch. Wie realisiert man so was?

WELT: Künstlerisch oder wirtschaftlich?

Rosalía: Uff! Es war ja schon wahnsinnig, so ein Album zu machen. Ich habe keine Ahnung, wie wir es überhaupt geschafft haben. Mit dem Londoner Symphonieorchester, zwei Jahre im Studio in Los Angeles. Letztlich war es aus Liebe zur Musik. Aber wenn nicht aus Liebe, warum sonst?

WELT: Sie könnten es aufführen, wenn die Sagrada Família in Barcelona fertig wird.

Rosalía: Sie werden sie vollenden? Tatsächlich?

WELT: Es heißt, dass der Turm Jesu Christi nächstes Jahr fertig sein wird, es ist bereits eine Feier für den 10. Juni geplant.

Rosalía: Nächstes Jahr? Im Ernst? Wow.

WELT: Bräuchte „Lux“ für eine Live-Aufführung nicht überhaupt ganz eigene Räume?

Rosalía: Es ist ein Projekt für einen ungewöhnlichen Ort, ja. Warum sind Kathedralen vertikal?

WELT: Fragen Sie jetzt mich oder sich selbst?

Rosalía: Weil Kathedralen einen dazu bringen, anders zu denken. „Lux“ ist auch eher vertikal.

WELT: Wird Architektur in der Ära „Lux“ wieder so wichtig wie die Videos und das Styling?

Rosalía: Ja, weil alles als Ganzes gedacht ist: die Videoclips, die Kleidung und im Konzert eben auch die Architektur. Wenn man als Musiker ein Projekt dieser Größenordnung auf die Beine stellen will, dann muss man schon im Entstehungsprozess an alles denken.

WELT: Brauchen Sie deshalb so viel Zeit zwischen Ihren Alben?

Rosalía: Ich kann mir das nicht aussuchen, jedes Projekt braucht eben seine Zeit. Wenn ich etwas erkläre, arbeite ich nicht. Und ich arbeite gern.

WELT: Wie steht es mit Abgabeterminen?

Rosalía: Ich versuche es wirklich. Ich glaube immer wieder, dass ich es schaffe, aber es klappt so gut wie nie.

WELT: Haben Sie in den letzten Wochen vor der Veröffentlichung mit einem derartigen Wirbel gerechnet?

Rosalía: Bitte erzählen Sie mir davon! Ich war mit so vielen Dingen beschäftigt, dass ich gar nicht darauf geachtet habe.

Eine Woche vor dem Interview wurde ein Foto der Sängerin veröffentlicht, wie sie auf einer Café-Terrasse in Paris sitzt und in der Partitur von „Vissi d’arte, vissi d’amore“ liest, einer Arie aus Puccinis „Tosca“. Am darauffolgenden Tag lud sie auf Substack ein Bild der rauchenden Sopranistin Maria Callas hoch. Der Text begann mit dem Satz: „Ich finde, dass Singen die schönste Übung gegen die Erdanziehung ist, die es gibt“. Ein weiteres Foto auf Substack zeigte eine Partitur mit dem Namen „Berghain“. Wenig später wimmelte es auf allen Kanälen von Leuten, die das Stück auf Klavier, Geige oder Akkordeon spielten.

Zwei Tage später postete die Katalanin bei Instagram in Warschau aufgenommene Fotos, die angeblich während der Dreharbeiten des Videoclips von „Berghain“ entstanden waren. Auf einem der Bilder war Rosalía zu sehen, in einem T-Shirt mit der Aufschrift „God-Complex“, mit einem Schnitzel in der Hand. Kurz darauf tauchten erste Plakate auf, mit der Ankündigung des Albums auf der Plaza del Callao in Madrid und auf dem Times Square in New York. Es hätte das Cover von „Lux“ sein können. Doch das war es nicht. Noch nicht.

Am Morgen nach dem Interview kündigte Rosalía einen Live-Auftritt auf TikTok an. Vier Millionen sahen zu, wie auf der Plaza del Callao in Madrid das Cover von „Lux“ präsentiert wurde. Es folgte ein weiteres Bild der Sängerin, die in einem Nissan GTR durch Madrid fährt, mit einem Kruzifix an ihrem Rückspiegel, klassische Musik hörend und eine Zigarette rauchend. Ende Oktober erschien „Berghain“, der Song mit Björk, danach das Video. Das Puzzle setzte sich zusammen. Fragen blieben.

WELT: Was für eine Beziehung haben Sie selbst zu den sozialen Medien?

Rosalía: Eine, ehrlich gesagt, sehr ambivalente. Wenn ich nicht das tun würde, was ich tue, dann wäre ich heute wohl in keinem einzigen dieser Medien unterwegs. Wenn man ein Projekt wie „Lux“ realisiert, zieht man sich zurück, anders geht es nicht. Draußen gibt es eine Menge Trubel. Und ich weiß nicht, inwieweit ich mich dabei wohlfühle, noch mehr zu diesem Trubel beizutragen. Mir ist schon klar, dass wir in einer Zeit leben, in der sich alles um das Storytelling dreht. Ich kann das zwar verstehen, sage aber noch einmal: Ich tue lieber etwas, als dass ich es erkläre.

WELT: Und wenn es darum geht, Partei zu ergreifen?

Rosalía: Manchmal scheint es, als erwarte man von Künstlern, dass sie Stellung beziehen. Wissen Sie, ich respektiere Aktivismus wirklich, wahren Aktivismus. Aber wer solch ein Album aufnimmt, kann nicht zugleich Aktivist sein und etwas Seriöses posten. Manchmal kommt es einem so vor, als könne man mit einer Story schon sein Gewissen beruhigen. Es gibt eben auch heikle Themen, bei denen ich auf keinen Fall die falschen Worte wählen möchte. Mit dem Pseudo-Aktivismus auf Instagram fühle ich mich einfach nicht wohl.

WELT: Was Sie sagen, findet Anklang.

Rosalía: Mag sein. Aber es wird so schon zu viel Wirbel gemacht. Soll ich auch noch dazu beitragen? Würde ich damit einer wichtigen Sache wirklich helfen? Oder sorge ich letztlich nur dafür, noch mehr Wirbel zu verbreiten? Es tut aber auch weh, wenn Schweigen als Parteinahme ausgelegt wird. Warum muss denn alles so performativ sein? Was in Palästina passiert: Ich verurteile den Völkermord, klar. Aber mir geht es öffentlich zuerst um mich als Künstlerin. Und es tut mir leid, wenn man es mir falsch auslegt, zu so heiklen Themen keine klaren Worte zu finden.

WELT: Im Sommer weigerte sich der Modedesigner Miguel Adrover, für Sie Kleidung zu entwerfen, weil Sie sich zum Thema Gaza nicht geäußert hätten. Er warf Ihnen vor, Schweigen sei Komplizenschaft. Hat Sie das verletzt?

Rosalía: Ja! Aber ich lerne dazu und versuche jeden Tag, es besser zu machen. Ich fühle mich bedeutend wohler, wenn ich mich direkt mit jemandem unterhalte und dabei lange und ausführlich über ein Thema reden kann, statt irgendeinen kurzen Text zu veröffentlichen. Ich fühle mich auch viel wohler dabei, wenn ich eine Stiftung gründe. Ich verstehe aber auch, dass andere es anders machen.

Dieses Interview erschien zuerst ungekürzt in „El País“, wie WELT Mitglied der „Leading European Newspaper Alliance“ (LENA). Aus dem Spanischen von Bettina Schneider.

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