Wenn heutzutage im Fernsehen zwei junge Menschen zu sehen sind, die auf Pferden reiten, mit Champagner in einem Whirlpool abpimmeln oder an einem Strand Kindergeburstagsspiele bestreiten, handelt es sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit um Reality-TV. Da macht „FBoy Island“ keine Ausnahme. In der ersten eigenen Datingshow von Amazons „Prime Video“ schießen sich gleich zu Beginn die zwanzig Kandidaten oberkörperfrei gegenseitig mit Lebensmittelfarbe ab, anmoderiert durch Host Lola Weippert mit der pennälerhaften Bemerkung „Jungs, ihr bekommt jetzt alle eure Spritzgeräte“ und einer Einblendung mit den Worten „#size matters“. Hihih.

Pessimisten dient Reality-TV als gerichtsfestes Indiz für den angeblichen Kulturverfall im Land. Nach den Talkshows der Neunziger sowie dem Castinghype der Nullerjahre ist es seit gut zehn Jahren vor allem das sogenannte „Reality-TV“ und dessen Subgenre, die besagten Datingshows, das den digitalen Äther rauf- und runterfließt. Und obwohl mit „Big Brother“ (seit 2000) und dem „Dschungelcamp“ (seit 2004) schon viel früher entsprechende Formate an den Start gingen, begann für das Genre erst mit dem Durchbruch der sozialen Medien um 2015 der richtige Höhenflug. Die Mischung aus kamerabegleitetem Sozialexperiment und exzessiver Selbstvermarktung haben Shows wie „Love Island“ (erstmals 2017), „Temptation Island“ (seit 2019) „Ex on the Beach“ (2020) groß gemacht und damit zahlreiche sogenannte „Reality-Stars“ hervorgebracht. So basal diese Shows auch sein mögen, so sehr finden sie beim Publikum Anklang. Wie sehr, wissen die Sender und Streaminganbieter jedoch erst seit Kurzem.

Die Quoten der linearen TV-Sender sind seit Jahren rückläufig, weil immer mehr Zuschauer auf die Streaming-Angebote der Sender zurückgreifen. Die für die Reichweitenmessung zuständige „Arbeitsgemeinschaft Videoforschung“, kurz AGF, reagierte Anfang April auf diesen Wandel im Nutzungsverhalten, indem sie ein weiteres Mal ihr Verfahren für die Reichweitenmessung von Bewegtbildern änderte. Durch ein neues Instrument namens „Census+“ misst die AGF seitdem genauer als vorher die Abrufzahlen auf Diensten wie RTL+, Joyn oder den Mediatheken von ARD und ZDF. Einer der Vorteile davon ist, das erstmals auch reine „Streaming Only“-Sendungen erfasst werden, also solche Sendungen, die nicht parallel über das lineare Fernsehen ausgespielt werden und von denen es immer mehr gibt. Dieses neue Messverfahren hat in den vergangenen Monaten für einige Überraschungen gesorgt. So wies das Branchenportal „DWDL“ kürzlich darauf hin, dass im September von den 25 meistgeklickten Streamingformaten in Deutschland ganze 22 Reality-TV-Shows auf RTL+ waren. Reality-TV boomt und für die Sender ist es ein günstiges Geschäft, um mit finanziell vergleichsweise geringem Risiko einen einträglichen Erlös zu erwirtschaften. Somit war es nur eine Frage der Zeit, bis hierzulande auch Amazons „Prime Video“ – das sich übrigens seit 1. November überhaupt erst von der AGF messen lässt – mit einem eigenen Reality-Format an den Start gehen würde.

Doch zurück zu den Pferden und den Whirlpools und den halbgaren Penis-Witzchen. Bei dem Ende Oktober auf „Prime Video“ gestarteten „FBoy Island“ treffen drei Frauen vor einer Inselkulisse auf insgesamt zwanzig Männer, von denen die Hälfte zu der titelgebenden Kategorie der „fboys“, die andere zu den „nice guys“ zählt. Nach und nach wählen die Frauen jeweils einen Mann aus, von dem sie glauben, er sei lediglich ein liebestoller „fuckboy“, worauf der Rausgewählte offenbart, zu welcher Gruppe er gehört. Wer von den Frauen sich am Ende der Show für einen „nice guy“ entscheidet, teilt sich mit diesem die Summe von 50.000 Euro, fällt die Frau indes auf einen der „fuckboys“ herein, erhält allein dieser das Geld, die Frau geht leer aus.

Für Veteranen des Genres klingt das alles irgendwie vertraut, und das ist es auch, „FBoy Island“ ist ein Potpourri aus verschiedensten Reality-Formaten der letzten Jahre. Das Insel-Setting ist von „Love Island“ ausgeliehen, die Dating-Konstellation mit Rauswahl-Ritual stammt von den „Bachelors“ und das Prinzip zweier Gruppen mit den „guten nice guys“ und den „bösen fboys“, die es zu enttarnen gilt, erinnert stark an „Make Love, Fake Love“ oder die „Die Verräter“.

Aber ist „FBoy Island“ dann auch das „best of all worlds“, wie man meinen könnte? Keineswegs. Die nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzte Kuppel-Show zündet zu keinem Zeitpunkt, ein blasser Cast trifft auf fadenscheinige Hahnenkämpfe unter den Kandidaten und auf die eingangs erwähnten Strandspielchen ist das Betätigen der rechten Pfeiltaste zum Vorspulen die einzig adäquate Reaktion. Die immer wieder wahllos eingestreuten Dates beschränken sich auf die gängigen Kennenlerngespräche mit dem Austausch hölzerner Fragen à la „Was sind deine Red Flags?“ oder „Hast du eine Love Language?“ Ab und an kommt es aber dann doch zum „deep talk“, etwa in dieser Szene:

Frau: „Ich gehe auch gerne ins Gym.“

Mann: „Echt? Stark, ich auch.“

Frau: „Das ist auch so ein Ventil für mich, wenn es mir nicht gut geht.“

Mann: „Ventil ist bei mir Meditieren, ehrlich gesagt. Und du selber, machst du das auch? Meditierst du?“

Frau: „Das bestimmt eigentlich mein ganzes Leben, die Spiritualität. So mit Karten legen, Vollmond-Rituale, Kristalle.“

Ok, cool.

Neben den bemüht hippen Hashtag-Einblendungen greift das Format auch den mittlerweile auf Social Media verbreiteten „Algospeak“ auf. „Algospeak“ ist eine Art „Geheimsprache“ in den sozialen Medien, um die Zensur-Algorithmen der von puritanischem Geist durchtränkten amerikanischen Plattformbetreiber zu umgehen. Beispiele dafür sind etwa die Wörter „$€x“ statt Sex, „p0rn0“ statt Porno oder eben das titelgebende „fboy“ statt „fuckboy“.

Auch die in der Show dauerpräsente Aubergine gehört zu „Algospeak“, ist sie in den letzten Jahren doch zum universalen Code für das männliche Geschlechtsteil geworden, gerne in Kombination mit dem Wassertropfen-Emoji und einem Smiley mit herausgestreckter Zunge. Und das ist vielleicht das wirklich einzig Interessante an diesem schlaffen Dating-Format für die so chronisch „oversexte“ wie „underfuckte“ GenZ: die zunehmende Verschmelzung von klassischem „Fernsehen“ mit den sozialen Medien mit ihren ganz eigenen Codes und Referenzen.

Bei Prime Video dürfte das Fazit auf das erste eigene Dating-Format durchwachsen ausfallen: zwar rangiert die Show plattformintern seit Wochen in den Top10 der meistgestreamten Serien; gegenüber den Reality-Erfolgsformaten von RTL+ oder Joyn zieht „FBoy Island“ hingegen deutlich den Kürzeren. Auch bei den Reichweiten gilt eben „Size matters“. Hihih.

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