Böse Menschen haben keine Lieder? Nicht dieser Schlächter, dem plötzlich musikalisch zumute ist. Erschöpft von all dem Mordgeschäft und den Intrigen, setzt sich Richard kurz hin und greift zur Klampfe. „Die Welt ist schlecht, sie wird zu Scherben gehen“, singt er leise.
Ahnt er, was er anrichtet? Oder ist es nur eine weitere Version seiner alten Platte von der zu ihm so ungeheuer ungerechten Welt, die nur verdient habe, zerschlagen zu werden? Für einen Moment denkt man, dass dieser von Nicolas Ofczarek gespielte „Richard III.“ sein Unglück auch hätte besingen können, statt seine Verwandtschaft wegzumetzeln. Ein verhinderter Künstler, der besser nie Politik gemacht hätte?
An der Seite von Richard sitzt ein Roboterhund, gesteuert durch Künstliche Intelligenz. Die Gefühls- und Weltzustände, von denen sein Herr singt, dürften ihm reichlich fremd sein: nur ein Muster aus Daten unter Hunderttausenden, das sich imitieren lässt, ohne je an die Bedeutung zu rühren. Wovon träumen Roboterhunde? Etwa von elektrischen Schafen, wie die Androiden bei Philipp K. Dick? Der Roboterhund stakst durch den beklemmenden Raum mit den gefliesten Wänden, sein Kameraauge richtet sich auf die menschlichen Darsteller in diesem düsteren Drama. Ist die Maschine der Zuschauer im Theater der Grausamkeit? Und ist Shakespeare nur Datenmasse fürs Maschinenlernen?
Wer führt hier „Richard III.“ auf, für wen – und wo? Das fragt man sich bei der knapp dreistündigen Inszenierung von Wolfgang Menardi, der nicht nur die Regie übernommen hat, sondern auch die Bühne für das zum Burgtheater gehörende Akademietheater entworfen hat. Ein Raum, bei dem man schwerlich sagen kann, ob es sich um ein Schlachthaus, einen Keller für perverse Sadomaso-Spiele oder einen Bunker handelt. Oder um den fensterlosen Gerümpelkeller der aussortierten Menschheit, die da zwischen Fernseher und Plattenspieler noch aus schlechter Gewohnheit ihre üblichen Dramen nachspielt, jedoch ohne Kontakt zur Außenwelt. Und wie ein Nachspiel zur Menschheit als solcher.
Menardi entdeckt in Shakespeares „Richard III.“ schon Becketts „Endspiel“. Wie sich das sechsköpfige Ensemble – neben Ofczarek sind das Dörte Lyssewski, Dorothee Hartinger, Sarah Viktoria Frick, Katharina Lorenz und Sylvie Rohrer – immer wieder in die Kostüme von Katrin Aschendorf wirft, die in ihrer barocken Opulenz im krassen Kontrast zur Kühlhausatmosphäre des Raums stehen, lässt an die ästhetizistischen Spiele der Posthistoire denken. Bedeutungslose Zeichen nach dem Ende der Geschichte. Selbst wenn Richard bei der Krönung den Trump-Dance und den Musk-Gruß macht, erinnert das an leerdrehende Showgesten aus einer Zeit, die Politik nur noch als Spektakel kennt.
Ofczarek, der Wucht und Unwucht großartig verbindet, spielt an diesem Abend einen Richard, der sich als sadistischer Zeremonienmeister fragwürdig gewordener Rituale gefällt. Geht es ihm um Macht? Jedenfalls nicht so wie bei den Ansammlungen von Anzugträgern in der Inszenierung von Burg-Schauspieler Itay Tiran, der „Richard III.“ in die cleane Welt des heutigen Politikbetriebs versetzte und damit im Sommer bei den Wiener Festwochen gastierte. Oder in der auf der Berlinale gezeigten Verfilmung „Kein Tier. So Wild.“ von Burhan Qurbani, wo die Fehde zwischen den Häusern Yorck und Lancaster auf Bandenkriege und Clankämpfe im heutigen Berlin übertragen wurden.
Auch die Faszination für das Unmoralische und Böse, mit der zum Beispiel Thomas Ostermeiers „Richard III.“ mit Lars Eidinger spielt, steht in Menardis Inszenierung nicht im Mittelpunkt. Indem er mit dem Robotorhund die transhumanistische Zukunft in das Spiel einbrechen lässt, fragt man sich eher, ob das Unmoralische und das Böse selbst Begriffe sind, die schon in naher Zukunft keine Bedeutung mehr haben werden. Das „Zeitalter der performativen Statistik“ (Hito Steyerl) mit der stochastischen Steuerung durch maschinenlernende Algorithmen braucht weder Handlungsfreiheit noch moralische Unterscheidungen. Eine technokratische Welt jenseits von Gut und Böse.
Das Paradox aller KI-getriebenen Erlösungsfantasien ist nur, dass die Welt, die das Böse nur noch als Ornament vergangener Zeiten kennt, selbst moralisch fragwürdig sein kann. In diesem Graubereich der Dämmerung des Maschinenzeitalters lässt Menardi seinen „Richard III.“ spielen, in dem folgerichtig der Roboterhund den letzten Auftritt hat. Der Tyrann ist, nachdem er tatsächlich noch ein Königreich für ein Pferd statt für ein selbstfahrendes Auto mit KI geben wollte, zu Boden gesunken. Für die Maschinen ist das nur noch ein putziges Randdetail aus der schwachsinnigen Geschichte der Menschheit. Endlich ist diese Gewaltgeschichte zu Ende. Nie wieder Richard! So könnte man denken.
Doch – woher kommen gleich nochmal die Daten für die KI-Modelle und die Muster für ihre Trainingsprogramme? Von wem lernen die Maschinen? Der KI-Hund hat alles genau studiert und aufgezeichnet. Nicht elektrische Schafe geistern durch seine Träume, sondern menschliche Richards. Klar, über Roboter oder Algorithmen wird man zwar keine Dramen wie „Richard III.“ schreiben, aber ob das eine gute Nachricht ist, möchte man nach diesem so anregenden wie beunruhigenden Abend doch stark bezweifeln.
„Richard III.“ läuft am Wiener Burgtheater.
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