Am 6. Januar 1906 schrieb der dreißigjährige Rainer Maria Rilke aus Paris seinem Gönner Karl von der Heydt einen Brief. Er war in jenem Genre gehalten, das er, neben Bittbriefen, besonders gut beherrschte, dem Dankesbrief. Der Anlass? Der Baron hatte sich lobend über seine jüngste Hervorbringung geäußert. Es handelte sich um die Gedichtsammlung „Das Stundenbuch“. Das war die Veröffentlichung, die Rilke weithin bekannt machte.

Rilke schrieb also dem zur Abwechslung männlichen seiner vielen adeligen Gönner einen Brief. Und der ging unversehens in ein Gedicht über. Darin standen in der letzten von vier Strophen die Zeilen „Unsäglich Schweres wird von mir verlangt. / Aber die Mächte, die mich so verpflichten, / sind auch bereit, mich langsam aufzurichten“.

Ein Gelegenheitsgedicht nur. Aber nicht ohne Tiefgang. Geschrieben von jenem Mann, den Robert Musil den „größten Lyriker, den die Deutschen seit dem Mittelalter besessen haben“ genannt hat. Es floss Rilke vollkommen mühelos in die Feder. Aber das war es eben! Rilke, ganz im Gegensatz zu Thomas Mann, dem anderen großen literarischen Jubilar dieses Jahres, war ein Schriftsteller, dem das Schreiben leichtfiel. Jedenfalls das Schreiben von Gedichten. Jedenfalls in seinen frühen Jahren. Aber auch in seinen späten gingen sie ihm wieder flott von der Hand. Doch er wollte das Schwere!

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen /, die sich über die Dinge ziehn. / Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, / aber versuchen will ich ihn“: So begann gleich das zweite Stück des „Stundenbuchs“. Es gehört inzwischen neben so vollendeten Gebilden wie dem „Panther“ oder dem „Herbsttag“ zum unverweslichen Erbe deutscher Dichtkunst. Aber für Rilke war das „Stundenbuch“ nach seiner Vollendung Schnee von gestern. Er wollte weiterschreiten. Den nächsten Ring wachsen sehen. Je schwerer es wurde, desto besser. Denn trotz aller Anstrengung (Überforderung?) war er eben auch der Überzeugung, dass es „Mächte“ gab, ihn „langsam aufzurichten“. Nur Geduld musste er haben. Doch die hatte er.

Kein anderer Autor der deutschsprachigen Literatur ist so streng mit seinen frühen Werken ins Gericht gegangen wie Rilke (dem der Konkurrent Gottfried Benn unterstellte, „Reimplastilin“ zu produzieren). Seinen „Cornet“ hasste er später geradezu, tatsächlich fehlte „Die Weise von Liebe und Tod des Cornet Christoph Rilke“ von 1912 im Ersten Weltkrieg in keinem Tornister der Soldaten, war geistige Kraftnahrung für Militaristen wie Antimilitaristen – ein Buch, in dem sich alle wiederfanden.

Und alles, was vor seinem Prosahauptwerk „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ – dem 1910 erschienenen, ersten modernen Roman der deutschsprachigen Literatur – entstand, galt Rilke, diesem Meister der Selbstvervollkommnung, schon bald nichts mehr. Der „Malte“ war neben dem anderen, dem lyrischen Hauptwerk, den „Duineser Elegien“, sein Schmerzenskind. „Unsäglich schwer“ zu schreiben waren beide Werke gewesen.

Am „Malte“ hatte er acht Jahre gearbeitet. An den Elegien (es handelt sich um nicht mehr als zehn Langgedichte) ein volles Jahrzehnt. Was war so schwer gewesen? Dass Rilke wegwollte von den lyrischen Floskeln und neuromantischen Stereotypen, dieser ganzen literarischen Geläufigkeit, die ihm so leichtfiel, aber eben auch schnell ins Parfümierte, Preziöse abrutschte, selbst wenn es um Religiöses ging. Wenn Rilke da loslegte, vor allem nach seinem Russland-Erlebnis, kam so manches heraus, von dem Thomas Mann missbilligend sagte, es sei von „frömmelnder Geziertheit“. Drastischer formulierte es Bertolt Brecht: Rilkes Verhältnis zu Gott sei „absolut schwul“.

Aber Rilke war nicht schwul. Er neigte nur zum Kitsch. Was nicht immer dasselbe ist. Und manchmal klang er auch wie eine eloquente Floristin. Doch er tat alles, um zu den „Dingen“ vorzudringen, wie er sich mit einer Anleihe bei seinem ersten Kunstgott, dem Bildhauer Auguste Rodin, ausdrückte. Vordringen zu dem, was authentisch ist, sei es ein Artefakt, eine Pflanze, ein Tier. Texte wollte Rilke schaffen, wie seiner Meinung nach Rodin Statuen, von denen man sagen konnte, was in Rilkes berühmtem Gedicht „Klassischer Torso Apollos“ steht: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht“. Und keine Stelle, die nicht vom Künstler bedacht, bearbeitet, bezeichnet wird – so dringlich, dass der Autor daraus ableiten konnte, was man den Rilkeschen Imperativ genannt hat (ebenfalls im „Torso“-Gedicht formuliert): „Du musst dein Leben ändern.“

Wo entstand diese Selbstverpflichtung, mit der sich Rilke künstlerisch immer weiter emporschrauben wollte? Nicht in Russland, in das er so viel hineinprojizierte. Auch nicht in Dänemark, Schweden, Italien, Spanien, Ägypten, allesamt Sehnsuchtsländer für ihn. Nein, das entstand nirgendwo sonst als in Paris. Für Rilke die Stadt der Städte. Von 1902 bis 1914, allerdings unterbrochen von vielen langen Reisen, war dies die Heimatadresse des Mannes aus Prag, der weder zu seiner Geburtsstadt noch zu Österreich noch zu Deutschland eine innere Beziehung hatte.

Im Grunde fühlte er sich auch in der Schweiz nicht heimisch, in der er sich nach dem Ersten Weltkrieg ansiedelte und schließlich 1926 einundfünfzigjährig starb. Denn er war in seinen letzten Jahren zu schwach, um jenen vorletzten Ring zu vollbringen, der da gewesen wäre: die Übersiedlung nach Paris, jene Stadt, die ihm „nottat“. Die Schweiz, so reizvoll es im Wohnturm von Muzot im Kanton Wallis auch gewesen sein mag, war nur Notbehelf. Rilke rächte sich dafür, dass er hier gestrandet war, indem er in seinen letzten Lebensjahren hauptsächlich französische Gedichte schrieb. Mit seiner letzten Geliebten Baladine Klossowska und deren Söhnen sprach er ohnehin Französisch.

Rilke und Paris

Aber warum tat Paris not? Weil Rilke hier sehen gelernt hatte. „Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen.“ So steht es im „Malte“. Gemeint war jenes sachliche Sehen, das Rilke von Rodin sowie von seinen beiden späteren, natürlich wiederum französischen Göttern Paul Cézanne und Paul Valéry verkörpert sah. Das sachliche Sehen, zu dem auch das Hässliche, Gemeine, Verstörende gehörte sowie all die „Fortgeworfenen“, die Rilke im „wirren“ Paris erblickte. Denn Rilkes Pariser Bildungserlebnis, das in seiner Wucht dasjenige von Heinrich Heine und Kurt Tucholsky, von Heinrich Mann oder Friedrich Sieburg weit überstieg, war ein ambivalentes, angstbesetztes, bei allen Glücksgefühlen, die es spendete. Glücksgefühle, die vom Dichter immer wieder in seinen diesbezüglich zum Weinen schönen Briefen beschworen wurden, diesem zutiefst faszinierenden, unerschöpflichen Parallelwerk des Autors.

Doch zum „sachlichen Sehen“ gehörten für Rilke, und das macht ihn zu einer so einzigartigen Erscheinung in der deutschsprachigen Literatur, nicht nur Dinge, Menschen, Pflanzen, Tiere. Sondern eben auch das Metaphysische. Müsste man von ihm nicht ebenso sprechen können wie von den irdischen Phänomenen, die wir täglich sehen?

Rilke, der moderne Mystiker, war davon überzeugt, dass „unser gebräuchliches Bewusstsein“ nicht alles umfängt, sondern nur einen Bruchteil dessen, was höhere „Mächte“ geschaffen hatten. Zwar sah er ein, dass er ins Jenseits zu Lebzeiten auch sprachlich nicht würde vordringen können. Aber was er vermochte, war zu versuchen, den Tod ins Leben zu holen und die Geleitfiguren vom Diesseits ins Jenseits und wieder zurück wortreich zu beschwören: die Engel. Davon vor allem handeln die „Duineser Elegien“. Vom Kampf um die Engel, die den Blick in das auch angstbesetzte Jenseits der Vernunft zu öffnen vermögen. Daher die Losung „Jeder Engel ist schrecklich“ (in der zweiten Elegie).

Man hat sich oft gefragt, warum Rilke in so vielfältiger Form um das „sachliche Sagen“ vom Natürlichen, aber auch vom Übernatürlichen kreiste wie um jenen „uralten Turm“, den er im zweiten Stück des „Stundenbuchs“ beschwört. Wieso dieser Kampf um das Unmittelbare, Unverstellte, sei es diesseitiger oder jenseitiger Natur? Hier muss man wohl ein wenig psychoanalytisch ausholen. Rilke gehörte ja zur ersten Generation, die sich mit den Theorien Sigmund Freuds auseinandersetzte, er hat Freud getroffen, und er diskutierte mit der intellektuell wichtigsten Frau in seinem Leben, der psychoanalytisch geschulten Lou Andreas-Salomé, ob er nicht sogar eine Analyse machen sollte, weil er so stark unter frühkindlichen Traumata litt.

Das größte Trauma hat er in unnachahmlich suggestiver Form im „Malte“ gestaltet, jener Figur, an die er alle seine Probleme delegierte und auf die er bis zu seinem Tod immer wieder zurückkam: „Bin ich weiter, als er war? Nein, ich bin’s nicht“ (so noch 1920). Gemeint ist jene Szene vor dem Spiegel, in der ein kleiner Malte in alten Kleidern und Uniformen kruschtelt, sie schließlich anlegt, um sich dann in immer neuen Verkleidungen zu bespiegeln. Er steigert sich so sehr in einen Rausch des Maskenwechsels hinein, dass er schließlich kollabiert. „Herausnehmen, wenn es noch geht“, schreit das Kind, aber man kann es nicht hören, weil sein Gesicht von so vielen Masken verdeckt ist. Sie ersticken den Schrei.

Eine Urszene der Moderne

Hier ist eine Urszene der Moderne gestaltet worden. Deshalb stand die Passage früher auch in Lesebüchern für den Deutschunterricht an Gymnasien. Verhandelt wird hier die Angst vor dem Verlust des Ichs, das in sozialen Rollen, sozialen Zuschreibungen zu verschwinden droht, die Angst des Ichs davor, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein.

Aber hier thematisiert Rilke auch sein ganz persönliches Drama, sein Nicht-er-selbst-sein-Dürfen, das ihm, wie er glaubte, die Mutter auferlegt hatte. Sie, die früh ein Töchterchen verloren hatte, wollte ihn als Mädchen. Rilke hieß ursprünglich René (der Wiedergeborene). Er selbst nannte sich als Kind, um der Mutter zu gefallen, sogar Sophie und hasste „Maman“ zugleich, weil sie ihn wie eine „große Puppe“ behandelte. Noch als er in die Kadettenanstalt einzog, stattete sie ihn mit Rüschenwäsche aus – zur Gaudi seiner johlenden Kameraden. Ein Ausbilder wiederum knarzte: „Packen’s die Maria wieder ein!“

Es war Lou Andreas-Salomé, die Rilke dazu brachte, sich Rainer zu nennen. Sie brachte ihn auch darauf, dass hier sein Lebensproblem, die „Doppelgeschlechtlichkeit“, vorlag, die ihm lange stark zu schaffen machte. Die Distanz zur Mutter hat Rilke nie überwinden können: „Weh, meine Mutter reißt mich ein“, dichtete noch der 40-Jährige, nachdem ihn die Frau Mama in München besucht hatte. Aber aus seiner Doppelgeschlechtlichkeit wusste er Funken zu schlagen. Sie machte aus ihm den zartfühlenden, empathischen Frauenversteher und Frauenliebhaber, der allerdings auch nicht zögerte, die „Rilke-Weiber“, wie Thomas Mann sie abfällig nannte, geschickt für seine Wünsche zu instrumentalisieren.

Und war er auf diese Weise nicht auch den Engeln, diesen zwiegeschlechtlichen, übergeschlechtlichen Wesen, nahegekommen? Etwas Seraphisches war jedenfalls um ihn. Seine mütterliche Freundin, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe, in deren Schloss zu Duino die ersten beiden Elegien entstanden waren, nannte ihn nicht umsonst Dottore Serafico. Wie auch immer: Hier rühren wir an das Geheimnis, man darf ruhig sagen: an das Mysterium von Rilkes literarischer Produktivität. Ein Glück, dass er es sich nicht durch eine Psychoanalyse hat wegtherapieren lassen.

Im zweiten Stück des „Stundenbuchs“ hatte der Mittzwanziger eine Frage aufgeworfen. Das lyrische Ich sinniert dort: „Ich kreise um Gott, um den uralten Turm, / und ich kreise jahrtausendelang; / Und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm / oder ein großer Gesang.“ René Rainer Maria Rilke kreiste nur ein halbes Jahrhundert lang. Und er wurde dieses und jenes dabei. Aber vor allem wurde er ein großer Gesang.

Das Doppeljubiläum von Rainer Maria Rilke (150. Geburtstag am 4. Dezember 2025, 100. Todestag am 29. Dezember 2026) bringt nicht nur zwei große neue Biografien mit sich (von Manfred Koch bei C.H. Beck, von Sandra Richter bei Insel), sondern auch den Prachtband „Rilke zeichnet“ (Die Andere Bibliothek) und eine Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach: „Und dann und wann ein weißer Elefant“ (ab 4. Dezember). Denn aus dem 2022 nach Marbach gelangten Nachlass wird deutlich: Rilke war nicht nur ein Text-, sondern auch ein Zeichenkünstler. Sein Sinn für alles Augenfällige war sehr ausgeprägt.

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