Vielleicht fangen wir mal mit einer guten Nachricht an. Es wird noch einige geben in diesem Text. Die erste sollte die Petrolheads unter unseren Lesern beruhigen. Wenn alles so kommt, wie es der ziemlich volle Writers Room um die Regisseurin Amma Asante will, der aus Peter Høegs Millionen-Seller „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ eine sechsteilige Serie gemacht hat, dann fahren auch in 15 Jahren noch relativ fabrikneue Verbrenner durch die Straßen. Zumindest in Dänemark. Es nageln allerdings nur die absolut Bösen mit ihnen herum.
Wer sich jetzt erstaunt an seinem Boomer-Kopf kratzt und versucht, sich an die Lektüre vor 31 Jahren oder an Bille Augusts Film zu erinnern, und sich fragt, was denn Høegs Wissenschaftsgesellschaftsphilosophieklimawandelgrönlandthriller mit dem Jahr 2040 zu tun hat, tut das zu Recht. Und vergeblich. Es ist halt so in „Smillas Gespür für Schnee“ (auf das „Fräulein“, das Høegs Buch auch im Dänischen im Titel trägt, verzichtet die Serie).
Möglicherweise muss man, um eine Antwort zu finden, auf die zweite Staffel warten, die sich nach sechs ziemlich kalten und zugigen Stunden in Kopenhagen und im ewigen Eis andeutet. Von der wir aber, wenn wir uns vom Seriengott ein Weihnachtsgeschenk wünschen dürfen, verschont bleiben wollen. Aber wir greifen vor.
An der Geschichte hat sich nichts verändert. Smilla ist Mathematikerin und kennt sich mit Gestein aus und mit allem, was gefroren ist. Weil in ihr selbst alles gefroren ist. Smilla wird in Grönland als Tochter einer Inuit und eines dänischen Arztes geboren. Der Vater holt sie nach Kopenhagen, als die Mutter stirbt. Sechs Jahre ist Smilla da alt. Sie igelt sich ein in ihrer Einsamkeit und Entwurzeltheit. Freunde hat sie keine. Bis Isaiah vor ihrer Tür steht. Sechs Jahre alt. Inuit-Kind. Und dann liegt Isaiah tot vor dem Haus. Abgestürzt beim Spielen. Sagt die Polizei. Kann nicht sein, sagt Smilla: Der Junge hatte Höhenangst.
Smilla verbeißt sich in Isaiahs Geschichte. Ein sanft anfahrender Hochgeschwindigkeitsthriller beginnt im Gewand eines Ideenromans über beinahe alles. Ein revolutionäres Literaturkonzept damals. Ohne „Smilla“ hätte es Frank Schätzings „Schwarm“ wahrscheinlich nie gegeben, aber das nur nebenbei. An skurrilen und mörderischen Figuren und diversen wissenschafts-, gesellschaftskritischen, philosophischen, theologischen Exkursen vorbeiführt Smillas Weg aus der garstigen Großstadt zurück nach Grönland und zu sich selbst. Mit dem Expeditionsschiff „Kronos“ fährt sie hin. Da wartet ein Meteorit, den skrupellosen Unternehmer und Forscher bergen wollen. Und ein unter kosmischem Einfluss wahnsinnig gewordener Wurm mit dem lustigen Namen Dranunculus borealis.
Drei Drehbuchteams wurden verschlissen für Bille Augusts Film. Vierzig Versionen sollen für den Zweistünder geschrieben worden sein, mit dem 1997 die Berlinale eröffnet wurde. 35 Millionen Dollar hatten Bernd Eichinger und Martin Moszkowicz für die Münchener Constantin zusammengebracht. Sie wollten das ganz große Ding. Hans Zimmer schrieb die Musik, Gabriel Byrne spielte mit und Richard Harris, Vanessa Redgrave und Jim Broadbent, Jürgen Vogel und Mario Adorf. Julia Ormond war Smilla. Dass sie nicht einen Tropfen Inuitblut in ihren Adern hatte, war damals egal.
Der Wurm, der Augusts Film letztlich erledigt, ist allerdings auch ein anderer. Irgendwann nämlich läuft dem Regisseur, der jede irgendwie geartete essayistische Vertiefung meidet, wie der grönländische Eisschild es gern mit dem Klimawandel täte, die Zeit davon. Zwei Drittel des Films sind vorbei, fast die Hälfte der Geschichte aber noch zu erzählen. So geht’s im Eisbärengalopp einem – man kann es nicht anders sagen – wahnsinnig bescheuerten Ende entgegen.
Die bekannteste Dänin nach der Meerjungfrau
1,7 Millionen Kinogänger allein in Deutschland machten Smilla endgültig zur berühmtesten Dänin nach der Meerjungfrau. Aber richtig glücklich wurde mit ihr eigentlich keiner. Was – neben der unzweifelhaft vorhandenen und bleibenden Aktualität der Geschichte – der Grund gewesen sein könnte, dass Martin Moszkowicz mit der Constantin jetzt einen neuen Versuch startete, der ihm ungefähr dreimal so viel Erzählzeit ließ.
Der Wurm ist nicht mehr drin. Das ist eine gute Nachricht. Dass Netflix als Ausspielungsort ausstieg, das Augusts Film im Streaming-Abo bereithält, ist eine eher schlechte. Es passe nicht mehr ins Portfolio, hieß es. Vielleicht weil es zu viele europäische Dystopien enthält, vielleicht weil „1899“ das ähnlich spookige, dystopisch-finstere Fantasygemälde der „Dark“-Macher Jantje Friese und Baran Bo Odar so gewaltig gefloppt war.
Jetzt ist „Smilla“ bei Magenta (und vielleicht kommendes Jahr bei der coproduzierenden ARD). Und eben im Dänemark des Jahres 2040. Drohnen fliegen herum. Jeder muss eine Bodycam tragen. Aus Sicherheitsgründen. Tut er es nicht, darf er nicht wählen. Es ist gerade Wahlkampf – und Energiekrise.
Rechtsextreme machen mobil, fordern Strom nur für Dänen. In dreißig Jahren, heißt es, gibt’s gar keinen mehr, wenn nicht ein Wunder geschieht. Das mit der Energiewende hat also nicht so richtig geklappt. Ein Musk-hafter Medienmogul will in Grönland ein elektromagnetisches Feld ausbeuten, das schon Wikingern und Nazis ziemlich übel in den Tod getrieben hat. Eine rechte Großpartei mit einer smarten Frau an der Spitze, deren Haare noch betonierter aussehen als die von Ursula von der Leyen, lässt sich mit ihm ein.
Filippa Coster-Walda ist Smilla. Das beruhigt alle Authentizitätswächter, was ja auch eine gute Nachricht ist. Ihre Mutter ist Inuit, ihr Vater Däne, beide sind Schauspielstars in Dänemark. Sie beherrscht genau zwei Gesichtsausdrücke perfekt. Besorgt gucken. Und sehr besorgt gucken. Begleitet wird sie von Elyas M’Barek, der ist, was Gabriel Byrne bei August war. Der „Mechaniker“, der klandestine Mann, von dem Smilla irgendwann nicht mehr weiß, auf wessen Seite er steht.
Rahid heißt er in der Serie. Möglicherweise wegen M’Bareks tunesischen Wurzeln, wird ihm ein Vorleben in der Demokratiebewegung angedichtet, die 2040 gegen die Regierung kämpft. Mit groben Psycho-Schrauben – auch Rahid ist ein Fremdling, auch er wird gejagt – wird die letztlich überflüssige Geschichte in Høegs Plot gedreht.
Auf der Flucht vor Polizei und Staat und unterwegs nach Grönland müssen Rahid und Smilla allerdings noch größere Erzählunfälle überleben. Der Überwachungsstaat hat – gute Nachricht! – klaftergroße Lücken. Elektroautos werden nicht getrackt. Wenn man sich vor Drohnen verstecken will, hilft es auch 2040 noch sehr, sich hinter einem Auto zu verstecken. Es gibt eine KI, die ist aber auch in fünfzehn Jahren – gute Nachricht! – noch weit entfernt von der Weltherrschaft.
Eine ganz mächtige elektromagnetische Quelle genau zu orten, bekommt auch die Technik des späteren 21. Jahrhunderts nicht hin. Dafür braucht es magische Inuit-Fähigkeiten. Eine – man kann es nicht anders sagen – wahnsinnig bescheuerte Auferstehung von den Toten ereignet sich. Es wird mächtig geraunt, ganzheitliche Geisterbeschwörung findet statt. Je näher Smilla dem ewigen Eis kommt, desto mehr verwandelt sich ihre Geschichte in ein Mysterienspiel. Bis sich die vielleicht spektakulärste (und – man kann es nicht anders sagen – bescheuertste) Auferstehung seit Lazarus begibt.
Und während Bille August die Zeit ausging, scheint der Constantin jetzt das Geld ausgegangen zu sein. Mit der offensichtlich aus Styropor zusammengebastelten Höhle jedenfalls, in der sich das mystische Finale abspielt, das sich am Ende als Cliffhanger herausstellt, würde sich kein Schultheater zum Jahresabschluss auf die Bühne wagen.
Man wünscht sich fast wieder einen Wurm herbei. Der sich über alle Entwürfe für eine zweite Staffel hermacht. Aber das hatten wir ja schon.
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