Als Deutschland 1982 den Grand Prix Eurovision de la Chanson gewann, war Krieg kein großes Wort. „Ein bisschen Frieden“ von Nicole beschwor eine bescheidene Utopie im Zeitalter der atomaren Aufrüstung in Ost und West. Beim Wettbewerb im nordenglischen Harrogate störte sich niemand an der Botschaft. Nur im Siegerland wurde darüber debattiert, ob Popmusik politisch sein sollte. Allerdings war „Ein bisschen Frieden“ seinen Kritikern nicht zu politisch für ein Schlagerfestival, sondern zu unpolitisch. Nicole hätte vom „totalen Frieden“ singen müssen.
44 Jahre später – auch die Deutschen nennen den Grand Prix im 21. Jahrhundert Eurovision Song Contest – wird die Debatte so erregt geführt wie nie zuvor. Die Beiträge der teilnehmenden Länder sollen möglichst unpolitisch sein, um andere Länder nicht zu kränken. Aber so sind die Zeiten nicht vor dem 70. ESC in Wien im Mai 2026. Alles ist jetzt politisch.
Nachdem Israel zuletzt in Basel mit „New Day Will Rise“ von Yuval Raphael den zweiten Platz belegt hatte, forderten Irland, Island, Spanien, Niederlande, Belgien und Slowenien den Ausschluss Israels wegen des Gaza-Kriegs. Auch das Lied selbst hatte, nachdem es bereits umgeschrieben worden war, Anstoß erregt. Angeblich wäre „New Day Will Rise“ eine unverhohlene Siegeshymne. Spanien und Niederlande warfen Israel außerdem vor, das Televoting seiner Zuschauer manipuliert zu haben.
Ursprünglich galt die Boykottforderung bis zum Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas in Gaza. Als die Waffenruhe eintrat, wurde die schon angesetzte Abstimmung der EBU, Europas Rundfunkkommission, zum Ausschluss wieder abgesetzt. Nun tritt die EBU am 4. und 5. Dezember zu einer formellen „öffentlichen Diskussion“ in Genf zusammen. Die Front zwischen Boykotteuren und Fürsprechern Israels wie Deutschland, Schweiz und Frankreich ist verhärtet.
Die Niederlande drohten durch ihren Sender Avrotros, ihren Beitrag zurückzuziehen, sollte Israel dabei sein, „unabhängig von der Entwicklung des Krieges“. Spaniens RTVE will ebenfalls nur dann am ESC in Wien teilnehmen, wenn sich die EBU zu einem Ausschluss durchringt. Vor dem Parlament in Spanien festigte der Chef die Haltung des staatlichen Senders vor der Genfer Konferenz und sprach wieder vom „Völkermord“: „Der Eurovision Song Contest ist ein Wettbewerb, aber Menschenrechte sind kein Wettbewerb.“
Wie es auch immer ausgeht, ohne Israel oder ohne Spanien und die Niederlande: Der Grand Prix, der Eurovision Song Contest, das Liederfestival des großen Friedens nach dem letzten Weltkrieg, ist als unpolitisches Politikum am Ende. Als Veranstaltung lässt er sich vielleicht retten, als Idee ist er erledigt. Im November hat die EBU das Regelwerk verändert, „um sicherzustellen, dass der Wettbewerb eine Feier der Musik und Einigkeit bleibt.“ Vor allem Israel wird reguliert.
Die EBU rät von „unangemessenen PR-Kampagnen ab“, wenn sie „von Dritten wie etwa Regierungen oder Regierungsagenturen unternommen und unterstützt werden“ (der israelische Rundfunk hatte über eine staatliche Agentur zur Wahl seines ESC-Beitrags aufgerufen). Die Anzahl der Televoting-Stimmen wird herabgesetzt, von 20 pro Person auf zehn (die israelische Kampagne hatte dazu aufgerufen, keine Stimmen an andere Länder zu vergeben, sondern alle 20 an den eigenen Kandidaten). Die Stimmen der Jurys wiegen wieder schwerer. Manipulationen sollen technisch ausgeschlossen werden (mit den Jurystimmen wäre Israel in Basel 15. geworden und nicht zweiter).
Wolfram Weimer, Deutschlands Staatsminister für Kultur, wirbt vor der Genfer Generalversammlung der Rundfunkanstalten unbeirrt für die alte Idee des ESC. Beim Eurovision Song Contest sei „jede Form der Ausgrenzung, jede Form von latentem Antisemitismus und jede Form von Boykott fehl am Platz“. Der Wettbewerb sei als „Fest der Völkerfreundschaft, der Toleranz, der Offenheit“ zu feiern, bei dem „Musiker und Künstler aus ganz Europa zusammenkommen“. Im Siegerland von 2025, Österreich, verlangt die ÖVP vom ORF, den ESC in Wien ersatzlos abzusagen, sollte Israel tatsächlich ausgeschlossen werden.
Ausschlüsse gab es immer wieder
Ärger, Ausschlüsse, Rückzüge gab es immer in den 70 Jahren des Gesangswettstreits. 2009 in Moskau trat Georgien nicht an, weil „We Don’t Wanna Put in“ als Protestsong gegen Putin (miss-)verstanden wurde. Kiew ließ 2017 Russlands Sängerin nicht einreisen, weil sie sich zuvor auf der Krim gezeigt hatte. Für Rotterdam 2021 wurde Belarus wegen des Beitrages „Ya nauchu tebya“ von Galasy ZMesta ausgeladen, weil die EBU den Songtext zu politisch fand für einen ESC.
Das war der Reiz bisher: Nicht nur Europa, sondern auch Nationen anderer Kontinente schickten Sänger in den Länderkampf, um sich in ihren kulturellen Eigenarten allen anderen zu präsentieren und sich gegenseitig zu bewerten. Punkte wurde nicht nur spielerisch vergeben. Deutschland kann davon ein Lied singen. Es ging immer um Antipathien und Sympathien, um völkerkundliche Klischees – und um politische Konflikte.
Schon die Teilnahme des jungen Staates Israel am Wettsingen Europas war, wie seine Mitgliedschaft in der Uefa, ein Politikum. Ein Akt der „Völkerfreundschaft“ (Wolfram Weimer) mit Erfolgen in den Jahren 1978, 1979, 1998 und 2018. Eine internationale Schlagershow im öffentlich-rechtlichen Fernsehen kann gar nicht unpolitisch sein. Und sei es nur identitätspolitisch „queer“ mit vielen bunten Vögeln auf der Bühne, in der jeweiligen Mehrzweckhalle, bei den zugeschalteten Jurorenrunden und bei ESC-Partys in ganz Europa und in Israel.
Die alte Frage, ob Musik, Kunst überhaupt, politisch ist und sein sollte, wird gegenwärtig in absurden Wendungen verhandelt. Als Xavier Naidoo 2016 in Stockholm für Deutschland singen und mit seiner schönen Stimme und seinen blumigen Versen dafür sorgen sollte, dass sich die Ressentiments und die Nullpunktekränkungen in Grenzen halten, wurde ihm das Mandat kurzerhand wieder entzogen. Bei der ARD war man auf einige seiner politisch wirren, auch antisemitischen Aussagen und Gesänge aufmerksam geworden.
Für Gegner der ARD als „Staatsfunk“ war Naidoo ein weiteres Opfer der „Gesinnungsdikatur“. Ein Sänger müsse sagen und auch singen dürfe, was er denke. Sobald aber andere sagen und singen, was sie denken und für eine neue Achtsamkeit im Umgang miteinander werben und dabei auch gegen Antisemitismus stehen, soll Popmusik wieder „neutral“ sein und allein der Unterhaltung und Zerstreuung dienen.
In diese gereizte Stimmungslage fiel in den vergangenen zwei Jahren schon der ESC in Malmö und in Basel. Auf den Straßen wurde gegen Israel mit rosafarbenen Bannern und der Aufschrift demonstriert: „Welcome to Genocide Contest“. Es war ein Aufmarsch der Wokeness gegen Israels Krieg gegen die Hamas in Gaza. Als hätte es den 7. Oktober nie gegeben, als wäre der Terroranschlag auf das Supernova-Festival nicht auch ein Angriff auf die Lebensart gewesen, die sich als offen, divers und bunt versteht.
Das Woke leidet, sobald es um die Hamas und deren Narrative geht, nicht nur unter kausalen Kurzschlüssen, sondern auch an einem Mangel an allem, was es sich für gewöhnlich auf die Fahnen schreibt: Liebe und Frieden, Empathie und Solidarität. Da fordern weltberühmte und gestandene Musiker wie Massive Attack, Björk und Lorde von ihren Plattenfirmen und Verlagen „No Music für Genocide“, ein Geoblocking ihrer Songs für Israel – obwohl sie wissen werden, dass dort kaum jemand ihre Songs hört, der den Krieg, wie er geführt wird, rundum gutheißt.
Durch die aggressive Rundfunkpolitik von EBU-Staaten wie Spanien werden solche Haltungen verstaatlicht. Sie erledigen den ESC. Der Eurovision Song Contest, wie ihn nicht nur die Europäer kannten, war eine utopische Versammlung und Veranstaltung. Das Unpolitische war nur die Aura. Das Politische war offen, für Identitäres, Patriotisches und Parodistisches. Da wurde paramilitärisch scharf mit Feuerwerk geschossen, um Kriege zu bannen. Da saß eine Deutsche im Konfirmationskleid mit einer weißen Gitarre und wünschte der Welt ein bisschen Frieden. In der Regel waren alle da und sich im Wesentlichen einig. So war er, der Eurovision Song Contest oder Grand Eurovision de la Chanson. Er wurde 69 Jahre alt.
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