Haben Sie heute schon Ihr musikalisches Alter abgelesen? Meines beträgt 38 Jahre, was einigermaßen korrekt ist, da ich sehr viel Indierock aus den Nullerjahren höre. Das wäre genau die Zeit gewesen, in der ein heute 38-Jähriger popmusikalisch sozialisiert worden wäre. Tatsächlich bin ich fast zwei Jahrzehnte älter, aber die in meiner echten, ersten Pubertät gehörte Musik – überwiegend Neue Deutsche Welle und Schweinerock – läuft bei mir nur noch ziemlich selten, auch wenn ich damit im Musik-Ratespiel Hitster stets auf unschlagbares Detailwissen zurückgreifen kann.
Das musikalische Alter ist ein neues Feature von „Wrapped“, dem automatisch erstellten musikalischen Jahresrückblick von Spotify. Es ist aus mehreren Gründen eine clevere Innovation, die zu den üblichen Listen – welche Genres, welche Alben, welche Songs, welche Bands der Nutzer am meisten gehört hat und wie viele Minuten insgesamt – hinzukommt. Denn über die Abweichung vom echten Alter kann man sich wunderbar in sozialen Medien aufregen und vor allem wortreich erklären, warum man durch die Kinderrapsongs bei Familienausflügen so jung geworden oder wegen des vorübergehenden Abba-Musical-Flashs und dem Bob-Dylan-Biopic-Soundtrack popmäßig unter die Boomer geraten ist.
Das Musikalter ist vor allem ein Kommunikationsanreger und passt zur Strategie des Streamers, sich zum selbstständigen sozialen Netzwerk weiterzuentwickeln. Über wenige Dinge reden Menschen so gern wie über ihre Lieblingssongs, und Spotify ist erneut äußerst geschickt darin, qua Jahresliste den nötigen Gesprächsstoff zu liefern. Immer noch kommen die Generationen darin zusammen, können sich gegenseitig mit ihren Geschichten langweilen, wann und wo und warum ausgerechnet dieses bestimmte Radiohead-Album oder dieser Taylor-Swift-Song das eigene Leben für immer verändert haben. Oder jedenfalls das eigene Hören.
Das Alter triggert eben besonders. In einem massenhaften Bekenntniszwang fühlt sich gerade jeder dazu angehalten, seine höchst individuelle Popbiografie in all ihren Um- und Abwegen auszustellen: mit kokett gebeichteten Guilty Pleasures, der frühkindlichen Entdeckung des elterlichen Plattenschranks, dem Einfluss der eigenen Kinder und was der idiosynkratischen Gründe mehr sind, um auf Spotify auf kuriose Sonderplaylists zu stoßen.
Tatsächlich errechnet Spotify das gefühlte Alter mithilfe des sogenannten „Reminiscence Bump“, indem es aus den meistgehörten Songs auf die mutmaßlich popmusikalisch lebenslang prägenden Jahre zwischen 16 und 21 zurückschließt und damit einen Fixpunkt (in der Geschichtswissenschaft wäre das der „Terminus post quem“) gewinnt. Das erhebt keinen wissenschaftlich-soziologischen Anspruch, es soll eben gerade dazu dienen, sich über das Ergebnis oder noch besser: über sich selbst lustig zu machen.
Wäre es technisch schon in früheren Jahrzehnten möglich gewesen, den heimischen Musikkonsum quantitativ zu erfassen, dann wären die Resultate vermutlich viel weniger überraschend gewesen: Wer im bestimmten Alter Platten gekauft oder Tapes aufgenommen hat, der hört sie eben dann später weiter oder einen Radiosender, der diesen Geschmack bestmöglich bedient.
Ende der Subkulturen
Dass reales und musikalisches Alter heute so stark voneinander abweichen, liegt an der Auflösung der Subkulturen mit ihren einst scharf geschnittenen Geschmacksgrenzen, die einst Fragen wie „Beatles oder Stones?“, „Mod oder Punk?“, „Oasis oder Blur?“ existenzielle Dimensionen verlieh. Außer vielleicht noch in der 1980er-Dark-Wave-Szene oder in bestimmten parareligiösen Metal-Sekten ist der Musikgeschmack nicht mehr Ausdruck einer klar definierten Gruppenidentität mit angeschlossenem Lebensstil.
Die Allverfügbarkeit des Backkatalogs quer durch alle Zeiten und Stile hat zudem die Schwelle der geschmacklichen Grenzüberschreitung gesenkt. Es war früher schon rein aus finanziellen Gründen gar nicht möglich, von seiner Hard-Rock-Vinyl-Sammlung mal eben auf West-Coast-Sound umzusteigen. Heute findet sich sofort die passende Playlist, die das Beste aus beiden Welten miteinander verbindet und im Zweifel noch ein paar KI-generierte Song im gleichen Hybrid-Style darunter mixt, ohne dass es auffällt.
Aus Subkulturen haben eine Geschichte, entwickeln sich, bringen neue Bands hervor, aber die tragenden Pfeiler der musikalischen Identität wurden trotzdem in einer goldenen Gründerzeit errichtet. Für Rockisten bleiben die frühen 1970er das Maß aller Dinge, und wer Grunge hört, kommt an den Nirvana-Jahren nicht vorbei.
Heute scheint sich solch radikales Fantum nur noch einer an Personenkult grenzenden Verehrung von Erfolg an sich wiederzufinden. Das globale Phänomen der Swifties als Subkultur zu bezeichnen, wäre aber unfreiwillig komisch. Der Megastar des 21. Jahrhunderts ist mit der Kulturindustrie deckungsgleich geworden. Doch aus der Teilhabe an einem Massenphänomen kann keine Individualität abgeleitet werden.
Identität entsteht so nicht mehr durch das Bekenntnis zu einem ganz speziellen Stil oder gar einer einzelnen Band oder einem Künstler – wie einst die Deadheads oder die Gemeinde der Dylanologen –, sondern durch den eklektizistischen Mix einer Jahresplaylist, die sich auf Social Media teilen lässt und mit der jeder andere stets nur eine begrenzte Schnittmenge hat. Die eigene Musikperson ergibt sich aus der Summe der unendlich vielen Einzelteile. Kein Porträtgemälde, sondern bestenfalls ein Mosaik.
„Diese Story teilen“ – die Aufforderung von Spotify am Ende des „Wrapped“-Clips bedeutet gerade nicht, Gemeinsamkeiten zu haben oder herzustellen. Im Gegenteil: Es ist das halbironische Her-Zeigen von Mikrodifferenzen, der Tausch von kleinsten Münzen der Subjektivität, das trotzige Beharren auf einem Rest an Unverwechselbarkeit in diesem Lärm der Welt, der alle Unterschiede nivelliert.
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