Das Christentum basiert auf Liebe. Diese eigentlich banale Aussage, hat schon etliche Kirchenmänner in den Ruch gebracht, Sex und Caritas unkeusch vermengt zu haben. Christopher Clark, Historiker Preußens und der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, nimmt sich in seinem neuesten Werk eine wunderliche Skandalgeschichte aus dem Schattenreich des Protestantismus vor. Der Cambridge-Historiker Clark, der mit europäischer Nationalgeschichte berühmt wurde, befasst sich in seinem Buch „Skandal in Königsberg“ erstmals mit einem Fall von Mikrohistorie, und das mit bemerkenswerter Finesse.

Die Kriminalgeschichte um zwei Pastoren und ihre intensiven Methoden der Seelsorge erschütterten um 1835 zwar nicht das festgefügte Staat- und Kirchengebäude der preußischen Monarchie. Doch für die beschuldigten Johann Wilhelm Ebel und seinen Mitstreiter Georg Heinrich Diestel kostete das erotische Mobbing ihrer Widersacher beide den bürgerlichen Stand.

Worum ging es? Im Vormärz befand sich Preußen in einer Epoche durchgreifender Reformen in Verwaltung, Erziehung, Kirche. Doch diese Modernisierung von Oben stieß auf Widerstand bei volkstümlichen, aber auch bürgerlichen Gläubigen, die sich nicht mit einem starren, staatskonformen Vernunftprotestantismus zufrieden gaben. Gerade in Ostpreußen keimten immer wieder Kleinsekten, die in einem sinnlich aufgeladenen Dialog mit Jesus und einer eigensinnigen Bibelauslegung ihren preußischen Sonderweg zum Seelenheil beschritten.

Der Provinzverwaltung unter stets königstreuen Reformern wie dem ostpreußischen Oberpräsidenten Theodor von Schön waren solche schwer einzuschätzenden „Konventikler“ ein Dorn im Auge. Preußische Untertanen sollten sich, am besten in schlichten Schinkelschen „Normkirchen“, mit staatsfrommen Gesängen und passivem Predigtkonsum begnügen. Clark arbeitet heraus, wie diese hegelianischen Vernunftreligion vor allem bei Frauen auf großes Ungenügen stieß.

Johann Wilhelm Ebel, beliebter Prediger an der Altstädtischen Kirche in Königsberg, kam den spekulativen Bedürfnissen seiner Schäfchen bewusst entgegen, indem er mystische Lektüre unklarer Bibelstellen samt geschwisterlicher Erweckungsstunden im Gottesdienst zuließ. Wie es bei Sekten so geht, stießen Adepten wie der jüdische Konvertit und Arzt Ludwig Wilhelm Sachs und der verkrachte Landadlige Finck von Finkenstein zum inneren Kreis – und wurden beim Überbietungswettbewerb der Erwähltheit bald wieder abgestoßen. Die Denunziationen der beiden Abweichler, die selber Finanz- und Sexualdelikte auf dem Kerbholz hatten, waren es, die den über Preußen hinaus Skandal machenden „Muckerprozeß“ von Königsberg zum Tagesgespräch machten. „Mucker“ wurde zum Schimpfnamen für unkontrollierbare Frömmlinge; heute würden staatsfromme Opportunisten sicher „Schwurbler“ sagen.

Religiöse Schwärmerei war in Preußen verdächtig

Obwohl es keine Beweise für Sittenlosigkeiten oder gar Orgien gab, stießen die Vorwürfe gegen die beiden Prediger bei der Obrigkeit auf verdächtig offene Ohren: Bei den Zusammenkünften sei es zu „Seraphinenküssen“ mit nackten Frauen gekommen. Ebel habe auf seine Anwesenheit beim Geschlechtsverkehr von Ehegatten gedrängt. In der preußischen Verwaltung, wo jedwede religiöse Schwärmerei als Fall für den Irrenarzt galt, reichten solche falschen Beschuldigungen, um die beiden Prediger abzusetzen, kurz ins Zuchthaus zu werfen und dann aus Ostpreußen zu vertreiben.

Clark zeigt, wie damals bereits eine enthemmte Medienöffentlichkeit von Skandalzeitungen mit infamen Erfindungen die Existenz Unschuldiger vernichten konnte. Erst 1842 wurden die beiden Inkriminierten einigermaßen rehabilitiert; es half ihrem Lebensweg nicht mehr auf.

Der Reiz von Clarks Studie in preußischem Gehorsam und religiöser Aufsässigkeit liegt auch in seinem scharfen Blick auf die brodelnde Frömmigkeit im direkten Umkreis von Aufklärern wie Kant, Herder oder des Hegelianers Karl Rosenkranz. Der Selfmade-Theologe Johann Heinrich Schönherr konnte damals als „Prophet vom Pregel“ seine wunderliche Lehre von Wasser und Licht wie ein alttestamentarischer Prediger verbreiten. Seine Idee, alle Menschen entsprängen leiblichen Vereinigungen von eiförmigen Urwesen, führte letztlich zu den herbeifantasierten Orgien der Sektierer. Clark führt uns vor: Das vermeintlich so nüchterne Preußen ruhte auf einem solide sexualisierten Unterbewusstsein.

Christopher Clark: Skandal in Königsberg. Eine Geschichte von Moral, Medien und Politik aus dem alten Preußen. DVA, 224 Seiten, 24 Euro

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.