Am 21. Dezember vor 650 Jahren starb Giovanni Boccaccio (1313 bis 1375). Er bildet mit Dante und Petrarca das Superdichter-Trio der italienischen Literaturgeschichte. Aber warum eigentlich? Das haben wir Franziska Meier gefragt. Die Professorin lehrt Romanistik an der Universität Göttingen und ist die führende Boccaccio-Expertin in Deutschland, unter anderem mit ihrer Biografie „Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten“.
WELT: Eine grausame Pandemie sucht Florenz heim. Die Menschen flüchten vor dem Lockdown aufs Land. Hätten Sie es als Romanistin für möglich gehalten, dass ein bald 700 Jahre altes Werk der Literatur noch einmal so aktuell sein würde wie Boccaccios „Decameron“ vor fünf Jahren, während der Corona-Pandemie?
Franziska Meier: Nein, das hätte ich nicht gedacht, schon deshalb, weil ich nicht für möglich gehalten hätte, dass sich hier in Europa nochmal eine Pandemie ausbreiten könnte. In Boccaccios „Decameron“ flüchten die Figuren vor allem, um gewissermaßen ihr Immunsystem zu stärken. Sie wollen sich eine Weile lang dem Erleben der verheerenden Konsequenzen, die sich aus dem völligen Zusammenbruch der sittlichen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung ergeben, entziehen und außerhalb der Stadt gemeinsam eine Gegenwelt aufbauen.
WELT: Was heißt „Decameron“ und worum geht es?
Meier: Der Titel besteht aus zwei griechischen Worten: deca, zehn, und emeron, Tag. Hier unterlief Boccaccio, der nur die Anfangsgründe des Altgriechischen beherrschte, mal kein Fehler. Er spielt darin auf das Hexameron an, also auf die sechs Tage, in denen Gott die Welt schuf. Bei Boccaccio zieht eine Gruppe von ledigen Freunden unter 25 (7 Frauen und 3 Männer) auf ihre Landvillen und gibt sich für die Zeit, die sie miteinander verbringen, eigene Regeln. Dazu gehört, in den heißen Nachmittagsstunden unter Bäumen Geschichten zu erzählen. Unterwegs sind sie insgesamt zwei Wochen, aber wegen der christlichen Bedeutung einzelner Wochentage erzählen sie einander nur an 10 Tagen, meistens zu einer vorgegebenen Thematik Geschichten. Dass es 10 Tage wurden, liegt an den 100 Gesängen in Dantes göttlicher Komödie, der Boccaccio eine ähnlich umfassende menschliche ‚Komödie‘ zur Seite stellen wollte.
WELT: Wenn man nur eine der 100 Geschichten aus dem „Decameron“ weitererzählen dürfte, welche sollte es sein?
Meier: Schwierig, vielleicht die allererste über einen Notar aus Prato mit dem Namen Cepparello (von ceppo, Baumstumpf), den die Franzosen, unter denen er lebt, als Ciappelletto (von chapeau, Hut) missverstehen. Zuerst liest man das amüsiert runter, am Schluss fängt man an zu grübeln. Erzählt wird, wie ein Ausbund von Bosheit – übrigens einer Bosheit um der Bosheit willen, nicht um sich zu bereichern – plötzlich im Haus von zwei italienischen Wucherern schwer erkrankt. Um seinen Gastgebern keinen Ärger zu machen (eine Regung, die bei seinem Charakter verblüfft), lässt er einen im Ruf der Heiligkeit stehenden Klosterbruder kommen, dem er eine lange Beichte ablegt. Darin bringt er es fertig, ohne richtig zu lügen, ständig die Unwahrheit zu sagen. Der Mönch kommt zu der Überzeugung, einen heiligen Mann vor sich zu haben, dessen Leiche er in der Kirche feierlich beisetzen lässt. Kurz darauf geschehen dort Wunder. Die Parodie einer Heiligengeschichte, ja gewiss, und doch steckt da noch viel mehr drin. Man ahnt, wie verworren und undurchsichtig alles wird, wenn sich die Menschen der irdischen Welt nicht mehr in einem von Gott gehaltenen und geordneten Kosmos aufgehoben fühlen und auf sich gestellt sind.
WELT: Welche Bedeutung hat die Rahmenhandlung des „Decameron“? War die Szene mit den Schweinen für Boccaccios Zeitgenossen das, was für uns die Särge von Bergamo waren?
Meier: In den vielen Pestdarstellungen des 14. Jahrhunderts hat nur Boccaccio davon geschrieben, dass sich zwei Wildschweine über die Kleidung eines Pesttoten hermachen und danach tot umfallen. Wenn andere das erwähnen, setzen sie hinzu: „sagt Boccaccio“. Die Särge von Bergamo sind Realität, für die Schweine würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Aber die im Mittelalter unvorstellbare Übertragung vom Mensch aufs Tier passt gleichwohl, denn sie veranschaulicht den von der Pest bedingten Zusammenbruch menschlicher Zivilisation, die die in uns lauernde ‚Bestialität‘ zum Vorschein bringt, das große Thema des späten Boccaccios.
WELT: Was hat es mit dem Image des schlüpfrigen Erzählers auf sich – und ist das womöglich der einzige Grund, warum es Boccaccio heute bei Netflix gibt?
Meier: Ja, das ist wohl so. Wenn man sich die bis jetzt erschienenen Artikel zu Boccaccio anschaut, dann ist immer von erotischen Geschichten die Rede, recht wenig, um nicht zu sagen nichts von der Vielschichtigkeit dieses Autors und seines Meisterwerks. Schade, denn letztlich tun wir Boccaccio und, wie ich meine, uns selbst mit dem, womit man leicht Aufmerksamkeit und Neugier wecken mag, keinen Gefallen.
WELT: Was war und ist die Meta-Botschaft des „Decameron“: Geschichten zu erzählen, hat in Krisenzeiten etwas Heilsames und Tröstendes – und wo Geschichten ausbleiben, gedeihen Verschwörungstheorien?
Meier: Jede Zeit sieht darin sicher eine andere Meta-Botschaft. Deshalb ist das „Decameron“ ja ein Klassiker. Geschichten zu erzählen, spendet Trost, aber für Boccaccio zunächst einfach in dem Sinne, dass dadurch die Zeit leichter vergeht; und die Zeit heilt bekanntlich viele Wunden. Die erzählten Geschichten bringen uns, abgesehen vom Vergnügen, dann aber vor allem zum Nachdenken. Sie entsprechen nicht dem, was man heute Narrativ nennt, sie stricken nicht an großen Vereinfachungen, Welterklärungen, vielmehr tauchen sie uns in die verwirrende Komplexität menschlichen Lebens angesichts einer von Zufall, Willkür beherrschten Welt ein, in der gute Menschen sich wie schlechte verhalten können und umgekehrt, in der es keine Gewissheiten gibt und man immer wieder neu auf die veränderten Umstände reagieren muss. Dieser kühne Balanceakt ist Boccaccio nur hier gelungen.
WELT: Warum eigentlich „Dichter in schwarzen Zeiten“? Florenz blüht doch auf mit Dante, Boccaccio und Petrarca – und wird zum Hotspot der europäischen Renaissance. Die Stadt erfindet das mündige Individuum, das Bankenwesen der Neuzeit und die Idee der modernen Staatsräson (Machiavelli).
Meier: Der Titel ist ein Wortspiel. Die Pest wird auch ‚Schwarzer Tod‘ genannt. Es geht aber darum, dass das 14. Jahrhundert von Zeitgenossen als Abfolge von Katastrophen empfunden wurde: Beginn der kleinen Eiszeit, sodass es immer wieder zu Hungerkatastrophen, Extremwetter kam, Zusammenbruch großer Banken, ein langer Krieg in Europa, die Epidemie, der politische Umbau von den Kommunen zu Tyranneien oder Oligarchien und und und.
Im Florenz des 14. Jahrhunderts wurden zwar – gerade durch Boccaccio – die Grundlagen für die europäische Renaissance, wie wir sie kennen, gelegt, aber die etabliert sich erst im Laufe des 15. Jahrhunderts. Wenn wir Dante, Boccaccio und Petrarca als Florentiner bezeichnen, dann ist das Folge einer klugen Kulturpolitik, die Boccaccio wesentlich angestoßen hat. Denn alle drei hatten ein ziemlich gespaltenes Verhältnis zu Florenz: Petrarca hat sich dort nur wenige Tage aufgehalten, Dante wurde verbannt und Boccaccio lebte zuletzt in Certaldo, dem Ort seiner Vorfahren. Große Literatur haben sie schreiben können, weil sie kulturell und sprachlich mehr als Florenz kannten. In Florenz, das ist keine Übertreibung, lag die Kultur nach dem Tod Dantes 1321 und dem Giottos 1337 erst einmal brach, das sahen auch Zeitgenossen so. Die baut sich erst langsam wieder auf, mit Hilfe Boccaccios und in anderer Art des Humanisten Petrarca.
WELT: Für welche Erfindung steht Boccaccio? Was zeichnet ihn aus, im Vergleich zu Dante und zu Petrarca?
Meier: Ihn zeichnet eine ungeheure Experimentierfreude aus, ein unbelastetes Kombinieren von all dem, was eigentlich säuberlich getrennt gehört. Dabei entstehen oder erstehen wieder eine Reihe von Genres. Bei manchen weiß man heute nichts mehr von Boccaccios Hebammendiensten, etwa bei der Bukolik. Fest eingebürgert hat sich dagegen, ihn für die ‚Erfindung‘ des psychologischen Romans („Die Klage der Fiammetta“) und des Novellen-Kranzes zu ehren, also von Geschichten, die nicht mehr schablonenhaft und didaktisch sind, und einer Handlung, in der diese dramaturgisch eingebettet sind. Gegenüber Dante und Petrarca zeichnet ihn eine große, sozusagen philosophische Menschlichkeit aus. Ihm war nichts Menschliches fremd, auch das darin liegende Bestialische nicht, und darin hat er uns bis heute viel zu sagen.
WELT: Jedes Boccaccio-Porträt steht vor der großen Herausforderung, dass ganze Abschnitte seines Lebens weiße Flecken bleiben. Wie geht man als Biografin mit dieser Herausforderung um?
Meier: Man muss die Flecken immer klarmachen, die Unsicherheit der Quellen erläutern, darunter auch die späteren Äußerungen Boccaccios über seine Jugend oder auch die Bemerkungen Petrarcas über seinen jüngeren Freund, denn dahinter stecken oft andere Interessen. An manchen Stellen bleibt dann nur übrig, Fragen zu stellen, Möglichkeiten aufzuweisen. Mein Bild von Boccaccio als einem feinen Seismographen seines Jahrhunderts hat mich dann auf die Idee gebracht, mithilfe der Chroniken die damaligen Verhältnisse zu rekonstruieren, etwa: wie lebte eine Familie in Florenz, was bedeutete es, als unehelicher Sohn aufzuwachsen, wie sah das Schulwesen aus, was bedeutet es von Florenz nach Neapel zu gehen und so fort.
Neue Bücher von und über Giovanni Boccaccio (1313 bis 1375)
Die von Luis Ruby neu übersetzte, kommentierte und mit einem Nachwort von Ijoma Mangold versehene Novellensammlung des „Decameron“ ist in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen (880 Seiten, 98 Euro). Ebenda erhältlich ist die im Interview erwähnte „Klage der Madonna Fiammetta“ – der erste psychologische Roman, neu übersetzt und mit einem Nachwort von Franziska Meier (432 Seiten, 24 Euro). Außerdem gibt es Boccaccios Roman „Filocolo oder Die verschlungenen Wege der Liebe“ (Erstmals komplett ins Deutsche übersetzt von Moritz Rauchhaus. Die Andere Bibliothek, 864 Seiten, 66 Euro), die von Christoph Ferber übersetzte Sammlung von Sonetten „Auf einer Wiese, rings um eine Quelle“ (Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Mainz) und Franziska Meiers Biografie „Giovanni Boccaccio. Dichter in schwarzen Zeiten“ (C.H. Beck, 415 Seiten, 32 Euro).
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