Wir hatten sie doch sehr vermisst, die falsche Schlange, das verlogene Weib, die wahre deutsche Mutti. Jetzt ist sie endlich wieder da, Caterina Schöllack. Steht am Kurfürstendamm, vor dem herrschaftlichen Haus mit ihrer Tanzschule „Galant“ drin, das seit zehn Jahren Epizentrum der vielleicht schönsten und seifigsten Familiensagas der deutschen Fernsehgeschichte ist. Von den Schöllacks in den Jahren 1956, 1959 und 1963 erzählten im ZDF die drei bisherigen „Ku’damm“-Staffeln und von Deutschland, von Mode, Gesellschaft, Politik, davon wie es war, Frau zu sein und erwachsen zu werden. Eine Serie, die in Dauerschleifen im Bonner Haus der Geschichte laufen müsste.
Fünf Jahre sind für uns vergangen seit „Ku’damm 63“, fünf Jahre, in denen für die Schöllacks 14 vergangen sind. Wir schreiben das Jahr 1977, als Caterina, diese aus braunem Denkschlamm geborene Mutter der Hölle, wie immer aus dem Ei gepellt, noch einmal betont, was „Galant“ für Berlin war: „Die letzte Insel des Anstands in einer verrohten Welt.“
Dass sie kräftig mittut, mitgetan hat an der Verrohung zumindest der Seelen ihrer Töchter und Enkelinnen, würde Caterina (Claudia Michelsen, die allein wieder das Einschalten lohnt und mit Fernsehpreisen geradezu beworfen werden sollte) natürlich nie zugeben. Jedenfalls nicht am Anfang des Dreiteilers, in dem sich um die Matriarchin nun drei Generationen Schöllack-Frauen versammeln. Es geht – wieder geschrieben von Showrunnerin Annette Hess – durch ein Hochgebirge von tragischen Geschichten und teilweise absurde Plotdideen, vorbei an Wetterstürzen aus Nachrichten und Hagelschauern gesellschaftlicher Phänomene.
Das Pathos, mit dem Caterina „Mutti“ Schöllack da steht, rührt davon, dass sich die Schöllacks ihr Haus und die Tanzschule nie hätten leisten können, wenn sie es nicht 1936 der jüdischen Familie von Julius Krohn für eine Mark abgekauft hätten. Was einer Enteignung sehr nahe kommt und 1977 endlich nach sich zieht, dass die Jewish Claims Conference die Tanzsäle zwangsräumen lassen will.
Nun schleppt das Hess-Epos gewaltige Mengen an Stoff mit sich herum, an Beziehungen, an Charakter-Anlagen, die weitererzählt werden wollen. Und dadurch, dass Hess beschlossen hat, statt der bisher gewohnten Dreivierjahresschritte zwischen den Staffeln einen ziemlich gewaltigen Sprung zu machen, gibt es (nicht nur für Neueinsteiger) eine Menge an biografischem Erzählmaterial in die Handlung zu integrieren.
Weniger begabte Drehbuchschreiber hätten das in handelsübliche Erklärbärdialoge gepackt und – weil ja auch diesmal wieder das politische, gesellschaftliche, kulturelle Geschehen der Zeit außerhalb des Schöllack-Kosmos für alle ahnungslosen Generationen von Nachgeborenen erklärt werden soll – die Geschichte an den Rand des Kollapses gebracht.
Annette Hess hat sich eines in mehrfacher Hinsicht genialen Tricks bedient. Sie hat Linda Müller (Massiamy Diaby) erfunden. Die ist nicht nur schwarz, was bei der Erstbegegnung mit Mutti den herrlich decouvrierenden Satz auslöst: „Am Telefon klangen Sie ganz normal.“ Sie ist außerdem Dokumentarfilmerin beim SFB und will eine Mockumentary (das Wort gab es 1977 allerdings noch nicht) drehen über die Schöllacks.
Weswegen sie das Erzähljahr lang überall mit ihrer Kamera dabei ist, die körnige, fast quadratische Bilder auffängt von den Schöllacks und was ihnen geschieht, wie sie die Welt sehen und sich selbst. Dass mit Linda irgendwas nicht stimmt, ahnt man bald. Was es ist, erkennt Evi sofort, als sie endlich aus dem Knast kommt, in dem sie zehn Jahre länger einsaß, weil sie einen Wärter um die Ecke brachte, der sich an weiblichen Gefangenen vergangen hatte. Irgendeine musste was tun, sagt sie. An Gerechtigkeit glaubt Evi nicht mehr. Aber das nur nebenbei.
Seifenoper über eine Weiberwirtschaft
Mehrfach genial ist diese Mockumentary, weil sie die Realitäten in der Geschichte verwischen hilft, sowohl das Leben der Schöllacks zeigt als auch eine ganz feine Reflexionsebene baut, auf der sich Mutti, Monika und Co. in Positur stellen und sich darstellen können, lügen können und Gefühle rauslassen, sich selbst darstellen können. Weil sie uns – und Linda Müller – die Familie noch nahbarer macht, uns hineinholt in diese Seifenoper über eine wahnwitzige Weiberwirtschaft.
Die Schöllack-Frauen gehen durch die Hölle. Die letzte Insel des Anstands mit der unanständigen, aufrechten, lebensklugen Matriarchin im Zentrum gerät in stürmische See. Monika, die ehemals rebellische Tochter, entwickelt sich zur Kopie von Mutti und treibt ihre Tochter Dorli (Carlotta Bähre) auf dem Weg zur Welttanzmeisterschaft in Medikamentenabhängigkeit und Selbstzweifel. Die freidenkerischste der Schöllack-Frauen, Helgas Tochter Friederike (Marie Louise Albertine Becker), geht ausgerechnet zur Polizei, was man einer Frau in den Siebzigern nicht empfehlen konnte, waren Polizeireviere – das führt Annette Hess geradezu penibel aus – doch Bundeszentralen der Misogynie.
Helga, die Quartalstrinkerin, gerät an einen Zahnarzt (Florian Stetter), dessen Falschheit und Gefährlichkeit man ahnt, lange bevor er zum ersten Mal zuschlägt. Caterina versucht mit allen Mitteln, das Unternehmen zu retten, auf dem Weg dahin gönnt Annette Hess ihr unterwegs eine tragische Jugendgeschichte, die sie fast menschlich macht. Und dann kommt Evi aus dem Knast und alles wird anders. Beinahe jedenfalls. Und beinahe gut.
Es geht um das System männlicher Unterdrückung von Frauen und die Folgen vom weiblichen Freiheitsdrang in einer repressiven Macho-Welt, um Männer, die Frauen im Katalog bestellen. Es fallen Sätze, die schaudern machen und – kurz vor einem patriarchalen Backslash – vor Augen führen, wo wir herkamen und wohin man nicht nur als Frau bitte nie wieder zurückkehren möchte.
Elvis stirbt, die RAF mordet, was man beides aus dem Radio hört. Männer bringen kein Glück, aber das war bei den Schöllacks ja schon immer so. Getanzt wird zu langsamem Walzer, Disco und den Sex Pistols. Dass der Bahnhof Zoo nicht weit vom Galant weg ist, wirkt sich aus.
Die Kreise schließen sich
Sabin Tambrea, der ja als depressiver Monika-Gatte Joachim eigentlich am Grund der See liegen sollte, taucht – manchmal macht man sich Sorgen um den Geisteszustand von Annette Hess – als Dorlis Lehrer wieder auf. Wenn man mal nicht mitbekommen hat, worum es geht, erklärt’s einem verlässlich ein Song aus der Zeit. In die wie immer üppig und penibel lebens- und gefühlsecht ausstaffierten Räume möchte man sofort einziehen, selbst wenn man als Generationskollege von Friederike und Dorli dabei war und all das gehasst hat. Die Farben vor allem.
Am Ende liegen die Puzzleteile alle auf wundersame Weise an ihren Plätzen, die Kreise haben sich geschlossen, und man hat ausnahmslos alle lieb (vielleicht von Hannes, dem Schläger abgesehen). Besser wird’s nicht werden. Vielleicht sollte Annette Hess – die mit „Weißensee“ schon mal und einigermaßen erschöpfend in der Wendezeit war – deswegen der Versuchung nicht nachgeben und den Schöllacks den Tanz ans Ende der Achtziger ersparen.
„Ku'damm 77 – Willkommen bei den Schöllacks“ läuft in der ZDF-Mediathek und am 12., 13. und 14.1. im Fernsehen.
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