Es ist einer dieser Momente, die nur Berlin hervorbringen kann. Klaus Biesenbach hat an diesem Freitagmorgen einige hundert Kunstfreunde zum „Director’s Breakfast“ im Skulpturengarten der Neuen Nationalgalerie eingeladen. Man feiert den Beginn des Gallery Weekends und die Schenkung des Films „Deutschland versenken“ von Christoph Schlingensief. Die noch amtierende Kulturstaatsministerin Claudia Roth ist gekommen, ebenso der wie sie bald aus dem Amt scheidende Landwirtschaftsminister Cem Özdemir, Künstlerinnen wie Katharina Grosse, internationale Sammler, Schauspieler und Museumsleute, die sich mit Kaffee aus Pumpkannen stärken. Nur der Kultursenator Berlins fehlt. Warum?
Der dichte weiße Dampf einer Nebelskulptur der japanischen Künstlerin Fujiko Nakaya beginnt aus Schläuchen zu wabern. Bald, warnt der Museumsdirektor, wird es für einige Minuten unmöglich sein, sich sehenden Auges zu bewegen, und genau in diesem Moment blinkt die Eilmeldung auf dem Handy auf: Berlins Kultursenator Joe Chialo ist soeben zurückgetreten. Er habe den Regierenden Bürgermeister um die Entlassung aus seinem Amt als Senator für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt gebeten, teilte Chialo der Deutschen Presseagentur mit. Der CDU-Politiker und Musikmanager Joe Chialo schmeißt damit nach zwei Jahren eines der schönsten Ämter hin, die Deutschland zu vergeben hat. Und das ausgerechnet zu Beginn des Gallery Weekends, bei dem der Teil der Kunstszene sich selbst feiert, der ohne Steuergelder auskommt – die Galerien.
Bis Montag hatte Chialo die Hoffnung, neuer Kulturstaatsminister unter Friedrich Merz zu werden, doch das wird nun Wolfram Weimer. In Berlins Regierung hatte er eine unsichere Zukunft. Der 54-jährige Joe Chialo war in seinem Amt zuletzt hart kritisiert worden. Als Kultursenator, so der Tenor quer durch alle Sparten, hätte sich Chialo angesichts dramatischer und kurzfristiger Einsparungen in diesem und in den kommenden Jahren nicht genug für sein Ressort eingesetzt. Stattdessen habe er oft und gern von mehr Eigenverantwortung in der Kultur gesprochen und etwa Museen und Theatern empfohlen, sich nach Sponsoren umzusehen. Das war zwar im Prinzip sicher richtig, angesichts der extrem kurzfristig gemachten Sparauflagen allerdings keine große Hilfe. Die Resilienz, die Chialo sich von den Kultureinrichtungen wünschte, muss man nach und nach aufbauen. Manches ging ihm nicht schnell genug.
Leiden eines Quereinsteigers
Aus Überzeugung setzte Chialo sich dafür ein, dass antisemitischen Akteuren im Kulturbetrieb keine Förderung zukommen sollte – ein Vorhaben, das am Abstimmungshickhack und juristischen Bedenken scheiterte. Zum Dank wurde sein Wohnhaus mit Farbbeuteln attackiert. Am Ende fehlte dem Quereinsteiger wohl das politische Handwerkszeug, seine Ideen auch durchsetzen. Der Rheinländer mit tansanischen Wurzeln war als Quereinsteiger in die Politik gekommen, trat 2016 der CDU bei und gehörte zum Kompetenzteam des Kanzlerkandidaten Armin Laschet.
Was sagen die Experten zu dieser Meldung? „Endlich hat er’s begriffen“, antwortet die ehemalige Berliner Kultursenatorin Adrienne Goehler, als sich der Nebel wieder lichtet. Chialos Anfangskredit sei verspielt, zu desinteressiert sei er an den Zusammenhängen. Chialo schaffte es nicht, Mehrheiten für seine Projekte zu gewinnen, wie den Umzug der Landesbibliotheken ins Kaufhaus Galeries Lafayette. Als Quereinsteiger aus der Musikbranche war Joe Chialo eine wild card des neuen schwarz-roten Senats unter Kai Wegner. „Hofnarr“ und „Feigenblatt“ musste Chialo sich von Bundeskanzler Scholz nennen lassen, eine unfaire Entgleisung. Dass der CDU-Mann Chialo nun als Senator seinen Hut nimmt, wird zwar von vielen im eher linken Kulturbetrieb der Hauptstadt instinktiv begrüßt, aber diese Freude wird nicht lange währen.
Die Berliner Kultur sollte darauf achten, was Chialo als Begründung für seinen Rücktritt nennt: „Im vergangenen Jahr habe ich die geforderten Einschnitte im Kulturhaushalt schweren Herzens mitgetragen – im Bewusstsein der gemeinsamen Verantwortung für die Stadt. Die nun geplanten weiteren Kürzungen greifen jedoch zu tief in bestehende Planungen und Zielsetzungen ein, verändern zentrale fachliche Voraussetzungen und führen so zur drohenden Schließung von bundesweit bekannten Kultureinrichtungen.“
Er hätte Berlin noch helfen können
Das ist die eigentliche Meldung, und sie wird Berlin weit länger beschäftigen als die Personalie Joe Chialo. Er geht ja, so sein Statement, weil er die kommenden Kürzungen nicht akzeptieren kann. Insgesamt muss die Berliner Kultur im Haushalt 2025 rund 130 Millionen Euro weniger ausgeben, knapp zwölf Prozent ihres Budgets. 2026 und 2027 werden allerdings nicht besser, die Verhandlungen laufen schon. Die Budgets sind in den Häusern aber bereits so sehr auf Kante genäht, dass es bald ans Eingemachte gehen wird. So reicht das budgetierte Geld im Moment nicht einmal, um die Tariflöhne für die Beschäftigten der vom Land geförderten Bühnen zu bezahlen. Ungemach droht.
Es wird nicht mehr Joe Chialo sein, der die Axt an „bundesweit bekannte Kultureinrichtungen“ anlegen muss, von denen er in seiner Rücktritterklärung spricht. Wenn es, wie Chialo andeutet, zu Schließungen kommt, etwa einer großen Oper oder eines bekannten Theaters, dann wird dieser Einschnitt nicht mehr an seiner Person hängen bleiben, sondern an demjenigen, der am Ende wirklich bestimmt, wofür in Berlin Geld ausgegeben wird: am Regierenden Bürgermeister Kai Wegner. Der stellt sich im kommenden Jahr zur Wiederwahl.
Wäre Joe Chialo mit Merz ins Bundeskanzleramt eingezogen, er hätte seiner Stadt vielleicht noch den einen oder anderen Gefallen tun können, denn der Bund hat tiefere Taschen als Berlin. Was der von Merz stattdessen berufene Verleger Wolfram Weimer als Kulturstaatsminister vorhat, weiß bisher noch niemand. Es ist ebenso Quereinsteiger wie Chialo.
Der dichte Nebel im Garten der Neuen Nationalgalerie ist so vielleicht auch eine gute Metapher für den Zustand der Kulturnation. Man bewegt sich tastend voran und sieht immer nur ein paar Meter weit. Der Leiter einer bekannten Berliner Institution bringt die Haltung des Betriebs auf den Punkt: „Inzwischen wäre jeder froh“, sagt er, „wenn Joe Chialo Kulturstaatsminister geworden wäre.“
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