Ich habe in Berlin Ólafur Elíasson getroffen, später dann Kirill Serebrennikov, und dazwischen „Akhnaten“ im Schiller-Theater, alles gestern in sechs Stunden…sehr effizient für einen Karfreitag. Smiley.“ Das war eine der letzten Textnachrichten von Pierre Audi. Typisch er, busy, aber eben immer auch neugierig, auf der Lauer, wen man entdecken könnte, einspeisen in den ewig nach Neuem lechzenden Opernbetrieb. Und auch voll Enthusiasmus darüber, wie sehr er selbst immer noch eine der Schlüsselfiguren im internationalen Musikgeschäft war.
Um 12 Uhr am Samstag war er dann schon wieder nach Pisa abgeflogen, um mit seiner Familie drei freie Tage in der Toskana zu verbringen. Dann Amsterdam, wo er wohnte, dann sein Intendantenarbeitsplatz in Aix-en-Provence. Und schließlich Peking, wo er die Übernahme einer seine Inszenierungen vorbereiten wollte. Und dort ist Pierre Audi nun in der Nacht auf den 3. Mai plötzlich verstorben. Er wurde nur 67 Jahre alt.
Diese 67 Jahre freilich hat Pierre Audi bis zur vollen Neige ausgekostet. Als Maniac und Genießer, als Mover & Shaker, als Macher und Trendsetter. Er war ein Gourmet und ein Gourmand zugleich. Und immer für News und Klatsch gut. Aber auch ein tiefernster Denker für die Oper von heute und morgen. Selten ging es ihm dabei um sich selbst, er brannte für den Betrieb, für seine Zukunft, diese olivhäutige, bisweilen ein wenig schläfrig dreinblickende Sphinx aus Beirut, aufgewachsen in Europa, perfekt französisch- und englischsprechend. Die freilich immer hellwach war, über eine spitze Zunge verfügte, aber eben auch über ganz viel Liebe zur Sache. Audi führte selbst auch Regie, aber am liebsten ermöglichte er Dinge.
Und das von frühester Jugend an. Schon während seiner Zeit am französischen Lyzeum in Beirut lud dieser im November 1957 geborene Sohn eines Bankiers und Politikers Pier Paolo Pasolini und Jacques Tati als Dozenten in seinen Filmclub ein. Er studierte in Paris, später in Oxford. Dort saß der Geschichtsstudent 1977 erstmals an einem Regiepult. Sein Textbuch: Shakespeares „Timon von Athen“. Zwei Jahre später gründete er mit der Chuzpe der Jugend in London die bis heute bestehende Off-Bühne Almeida Theatre, die sehr schnell sehr hot wurde und deren künstlerischer Leiter er bis 1989 blieb. Schon ein Jahr vorher war dieser künstlerische Wirbelwind in einer heute absurd mutig anmutenden Entscheidung an die Nederlandse, heute Dutch National Opera als Intendant berufen worden.
Diese war erst zwei Jahre vorher in ihr tolles, bis heute stilprägendes Haus am Amsterdamer Waterloo Plein umgezogen, wo erstmals in diesem Land große Oper überhaupt möglich war. Und Pierre Audi nutzte seine Chance. Grandiose 30 Jahre lang, bis 2018. Er ermöglichte, setzte aber schon früh auch mit einem Monteverdi-Zyklus und später einem „Ring des Nibelungen“ in seiner Regie vor Ort Maßstäbe, auch weil er sich die besten Mitarbeiter suchte. Der heutige Barockguru Christophe Rousset saß mit seinen Les Talens lyriques im Graben, Michael Simon, der gerade als Forsythe-Bühnenbildner groß wurde, gestaltete, Jean Kalman, der sonst für Chéreau leuchtete, machte das Licht.
Pierre Audi brachte die Niederlande auf die Weltkarte der Oper, und die Nederlandse Opera leuchtete weltweit. Königin Beatrix war sein größter Fan, sie kam auch als spätere Prinzessin immer wieder in seine Inszenierungen. Die waren weltweit zu sehen, in Paris, Wien, New York, München, Salzburg, wo Herzog & de Meuron, Miuccia Prada, Karel Appel, Georg Baselitz, Anish Kapoor seine künstlerischen Partner waren.
Er gierte auch nach der Moderne
Ähnlich wie vorher für Rolf Liebermann und August Everding, später dann für den parallel in Brüssel und Salzburg werkelnden Gerard Mortier, war auch für Pierre Audi Oper jeden Abend ein Fest – für Herz und Verstand, sinnlich und sinnig. Er war ein Kulinariker, aber einer der auch immer nach der Moderne gierte, Schönberg liebte, Stockhausen in eine alte Gasfabrik verfrachtete, Peter Sellars und Simon McBurney nach Amsterdam einlud, noch einmal neu mit einer jüngeren Generation mit Monteverdi anfing, Peter Greenaway und Romeo Castellucci zum Musiktheater brachte, Kompositionsaufträge an Tan Dun, Kaija Saariaho, Pascal Dusapin, Louis Andriessen, Alfred Schnittke, Manfred Trojahn, John Adams und György Kurtág vergab, sich um die Jugend kümmerte.
Mit Hartmut Haenchen, Ingo Metzmacher und am Ende Marc Albrecht arbeitete Pierre Audi in Amsterdam mit gleich drei deutschen Chefdirigenten zusammen, auch sein deutscher Dramaturg Klaus Bertisch blieb ihm immer treu. Teure Sänger konnte man sich hier nicht leisten, also entdeckte man die Stars von morgen. Sehr hoch geschätzt wurde von ihm auch die administrative Leiterin der Oper, Truze Lodder, denn Audi wusste: Ohne sie ist auch er nur ein halber Intendant. Peter de Caluwe, einst sein Kommunikations-, dann Castingchef, heute selbst Intendant in Brüssel, sagte kürzlich: „Truze und Pierre, die haben sich wirklich geliebt, so unterschiedlich sie sind. Das war wie eine wirklich gute, auf Augenhöhe geführte Ehe.“
Pierre Audi konnte auch eine Diva sein, aber ganz schnell war er wieder unten, krempelte die Ärmel hoch, schnalzte mit der Zunge und wandte sich der nächsten Opernbaustelle zu. Und die gab es in seinem arbeitsreichen Leben in großer Menge. Von 2005 bis 2014 war er zudem künstlerischer Leiter des Holland Festivals. Und 2018 übernahm er folgerichtig Frankreichs Top-Musikfestival, die Festspiele von Aix-en-Provence. Da gaben sich nun Simon Rattle und Simon Stone, Nina Stemme und Barbara Hannigan, Dmitri Tcherniakov und Tobias Kratzer, Esa-Pekka Salonen, Klaus Mäkelä, William Kentridge und Barrie Kosky die Klinke in die Hand.
Es war immer zu wenig Geld da, aber es wurde sehr große Kunst – die etwa den Platzhirsch Salzburg etwas ältlich aussehen ließ. Auch weil Pierre Audi in der Provence neuerlich magische Orte entdeckte, eine vergammelte Hallenbausünde in Flughafennähe oder das am Abend froschumquakte Luma-Terrain von Maja Hoffmann in Arles, wo er spannende Uraufführungen projektierte. Und gleichzeitig führte Audi zudem in New York seit 2017 die Performance-Serie der Park Avenue Armoy, wo in der alten Militäraufmarschhalle Marina Abramovich, Igor Levit, Jonas Kaufmann, Claus Guth und eben erst Anne Imhof aufschlugen. Und in Brüssel war er diese Saison eingesprungen, um für den über Budget und Plan hinauslaufenden Castelucci die letzten beiden „Ring“-Teile zu übernehmen.
Gerade hatte er noch im März Händels „Alcina“ in Rom herausgebracht. „Großes Chaos“, lautete eine SMS. Er sprach von heute und dachte längst über morgen nach. Auch die Pierre-Audi-Kerze brannte also an beiden Enden, obwohl ihn seine Frau und die noch jungen Kinder erdeten. In 14 Tagen wird ein wichtiger Preis verkündet, den auch er verdient hat. Er wird nun zum Vermächtnis, für diesen Opern-Visionär und Musiktheater-Arbeiter. So wie nun leider auch die am 4. Juli startende Aix-Ausgabe mit Mozart und Cavalli, Britten, Bizet, Verdi und Charpentier.
Im Vorwort der Festival-Borschüre schrieb er: „Calistos Metamorphose, Buddhas Reinkarnation, Louises Verwandlung, Don Giovanni als Proteus... Es gibt nichts Beständiges im Universum; alles vergeht, alle Formen sind nur dazu da, um zu kommen und zu gehen‘, so Ovid in seinen ,Metamorphosen‘, der in Cavallis ,La Calisto‘ ein faszinierendes Kontinuum zwischen Natur, Menschen und Göttern beschreibt“. Nun ist Pierre Audi gegangen. Es tut weh.
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