Wie schreibt man über das penibel organisierte Erschießen von Abertausenden Menschen, über kalte bürokratische Planungen, wie am effektivsten zu töten sei – wenn man weiß, der eigene Großvater war für dieses massenhafte Morden mitverantwortlich? Wo beginnt man, wenn lange keine Fragen gestellt wurden?

Es gibt Sätze in diesem Buch, die beiläufig daherkommen, aber lange nachhallen. Die in wenigen Worten sehr viel erzählen über die deutsche Nachkriegsgesellschaft und ihre Widersprüche, über ihre Traumata und Bewältigungsversuche. „Mein Vater wartete förmlich auf den rechten Moment, in dem er den alten Ernst wieder hervorholen konnte“, schreibt Lorenz Hemicker, der Enkel, acht Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Ende des Holocaust.

Der „alte Ernst“ war begeisterter Nationalsozialist, SS-Mitglied der ersten Stunde. Er war, das weiß der Enkel von klein auf, konkret befasst gewesen mit dem Mord an 27.000 Juden, an ihrer brutalen Erschießung in Lettland, nahe Riga. Aber viel mehr wusste er lange nicht über den Großvater, den er nie so nennt, und dem er nie begegnet ist.

Untiefen der Familiengeschichte

Lorenz Hemicker ist Journalist – heute für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ –, und er beginnt irgendwann zu recherchieren. Er plant, gemeinsam mit seinem Vater an den Ort des Massakers zu fahren. Dazu soll es nicht mehr kommen, der Vater stirbt kurz vor der Reise. Er muss sich allein auf den Weg machen, ins Baltikum, zu Archiven, zu Überlebenden und Zeugen, in die Untiefen der Geschichte und der Familiengeschichte. Er muss allein Antworten suchen auf die Fragen, die er nun auch seinem Vater nicht mehr stellen kann.

Minutiös lässt sich schließlich rekonstruieren, was an jenen Tagen im November 1941 geschah, wie die SS-Männer das Morden erst probten, dann dirigierten. Wie sie die Menschen hineintrieben in Gruben, die sein Großvater konzipiert hatte. Gruben mit Rampen, denn sonst, so sagte der später einmal ohne jeden Zynismus, müssten sie ja springen, „das kann man den armen Menschen doch nicht antun“. Die noch Lebenden sollten sich auf die Toten legen, in sicherer Erwartung der Kugeln. Die Mörder wurden nur hektisch, als sie das Tempo nicht halten konnten. Allein Schneefall setzte dem ersten Blutsonntag am Abend ein Ende. Aber es ging weiter.

Lorenz Hemicker schont weder sich noch seine Leser, bleibt so klar in der Sprache wie in den Details („Mein Großvater, der Täter. Eine Spurensuche“, Rowohlt Berlin, 24 Euro). Und selbst wenn diese Details der Tötungsmaschine heute bekannt sind, die wahnsinnigen Mechanismen der Professionalisierung des Massenmordes beschrieben, macht das Enkel-Ich hinter den Schilderungen einen Unterschied. Sogar, wenn es so zurückhaltend ist wie hier. Vielleicht, weil Hemicker gar nicht erst versucht, die eigene Hilflosigkeit mit Sprachkitsch zu überspielen.

Es gibt Momente größter Intensität in seiner Erzählung – wenn er zum ersten Mal den Wald von Rumbula betritt, wo alles geschah oder, später, in Riga auf den Überlebenden Alexander Bergmann trifft, der ihn schließlich bittet, die Vernehmungsprotokolle des Großvaters vorzulesen, weil er sie selbst nicht mehr lesen kann, das Alter, die Augen.

Hemickers Frau verbrannte alle Dokumente

Jenes Massaker im Wald von Rumbula bei Riga ist der Ausgangspunkt einer Reise in zwei Richtungen: Zurück – um nachzuzeichnen, wie Ernst Hemicker zu dem Mann wurde, der dort am Rande der Grube stand, und weiter zu den letzten Kriegsjahren, über die auch in der Familie wenig bekannt ist. In beiden Richtungen findet Lorenz Hemicker neue Spuren, viele von ihnen schmerzhaft. Bei allem schwebt über den Recherchen natürlich ein Thema, dem er sich mal nebenbei, mal explizit widmet: Wen machte der Großvater selbst aus diesem Ernst, nach 1945, was machte das mit der Familie? Wer wusste etwas, und wie wurde damit umgegangen?

Als in den späten 1960er-Jahren im Haus der Familie der Brief ankam, der klarmachte, dass gegen den ehemaligen SS-Mann nun wegen „Beihilfe zum Mord“ ermittelt würde, kam das für ihn selbst nicht überraschend. Für mindestens seinen Sohn jedoch schon. Ernst Hemicker starb 1974, seine Frau verbrannte alle Dokumente, die sie besaß. Man schwieg, obwohl man wusste.

Die Widersprüche, die der Enkel im und über den Menschen Ernst Hemicker findet – der laute Sohn einer privilegierten Familie, der frustrierte Soldat des verlorenen Ersten Weltkriegs, der erst erfolgreiche, dann scheiternde Unternehmer in den 1920er-Jahren, der autoritätsgläubige Mann, der am Ende mal brav, mal großmäulig vor den Untersuchungsrichtern sitzt –, fügen sich zu einem Bild: Er war ein Mensch wie viele. Das mag keine neue Erkenntnis sein – der Weg dorthin aber ist nicht nur für die unmittelbar Betroffenen ein wichtiger. Gerade jetzt.

Ist die gegenwärtige bundesrepublikanische Gesellschaft – entgegen vieler Vermutungen, gerade am Ende des vergangenen Jahrhunderts – immer noch eine Nachkriegsgesellschaft? Für den Umgang mit der Vergangenheit ist das eine relevante Frage, denn die Antwort darauf enthält womöglich auch eine Antwort darauf, wie der Gegenwart zu begegnen ist, und den sehr aktuellen Ängsten vor einer Wiederholung der Geschichte. Auch in der Hinsicht ist dieses ein notwendiges, ein wichtiges Buch.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.