Unsere erste Begegnung war eine Begegnung, die eigentlich gar nicht möglich war. Irgendwie kam ich an Giwars E-Mail-Adresse. Ich schrieb ihm, dass ich ihn gerne einmal treffen würde, ich wollte ein Porträt über ihn schreiben, über sein Leben, dass mir so verrückt erschien, dass jeder Regisseur sich wahrscheinlich verweigern würde, daraus einen Film zu machen. So viel Wahnsinn. So viel Tragik. So viel Komödie. Eigentlich doch viel zu viel für nur ein Leben, besonders von einem Mann, der die besten Jahre noch vor sich hatte. Ich sollte mich täuschen. In beinahe allem.

Ich kannte Giwar zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht persönlich, aber natürlich kannte ich Giwar. Jeder, der so wie ich in Bonn aufgewachsen war, kannte ihn. Seinen Namen. Seine Geschichten. Man erzählte sie sich hier schon lange bevor Giwar Hajabi zu Xatar wurde, dem ersten Gangsta-Rapper, der wirklich auch ein Gangster war. Das war übrigens auch der Grund, warum das mit dem Treffen nicht so einfach war. Giwar saß im Gefängnis. Der Grund für seine Haft war eben eine dieser Geschichten, die sein Leben so außergewöhnlich machten.

Er hatte da vor ein paar Jahren einen Goldtransporter überfallen. Nicht so, wie man sich das vielleicht vorstellt, kein brutaler Raubüberfall, nein, das wäre nicht Giwars Art gewesen. Er nahm ein paar Freunde, organisierte sich eine Polizeiuniform und verfolgte den Goldtransporter, dessen Route er kannte. Dann setzte er eine Sirene auf seinen Wagen, signalisierte dem Fahrer, dass er rechts ran fahren sollte und teilte ihm mit, dass er verhaftet sei. Steuersünden. Er wisse schon Bescheid. Der Fahrer fügte sich, ließ sich Handschellen anlegen und stieg in den Polizeiwagen, der gar kein Polizeiwagen war.

Und Giwar fuhr mit dem Transporter weg. Mit einer Beute im Wert von gut 1,8 Millionen Euro. Die Sache flog natürlich schnell auf. Giwar und seine Komplizen wurden gesucht, sie flohen spektakulär durch halb Europa und endeten schließlich in einem irakischen Folterknast. Irgendwann wurden sie schließlich von deutschen Zielfahndern zurückgeholt. Und jetzt war er hier. Im Knast. Interviews mit Medien waren ausdrücklich nicht erwünscht.

„Bra, ich dribbel da was“, schrieb er mir auf meine Mail zurück. Wenn es einen Satz gibt, der Giwar Hajabi am Besten charakterisiert, dann ist das wahrscheinlich dieser. Ich dribbel da was. Ich mache etwas möglich, was eigentlich nicht möglich ist. Gott weiß, niemand dribbelte so wie Giwar. Und so kam es zu unserer ersten Begegnung. Er erzählte mir von seinem Leben. Von seiner Flucht. Von der Folter im Irak. Und warum er das deutsche Gefängnis trotzdem schlimmer fand. Es waren Geschichten, wie aus einer anderen Welt.

Seine erste Erinnerung, war die Erinnerung an den Knast

Ein paar Wochen später meldete sich Giwar wieder bei mir. Das war 2014. Er hatte im Gefängnis seine Lebensgeschichte aufgeschrieben und wollte sie als Buch veröffentlichen. Er hatte tausende von Seiten und suchte jemanden, der Ordnung in diese ganzen Notizen bringen sollte. Ob ich sowas könnte? Wahrscheinlich nicht, dachte ich, sagte aber, dass das natürlich kein Problem wäre. Geht schon irgendwie, ich könnte ja auch versuchen etwas zu dribbeln. Und so wurde das dann also meine Aufgabe. Sie war gewaltig. Wie sollte man Ordnung in eine Lebensgeschichte bringen, die dem Chaos zu entspringen schien?

Giwars erste Erinnerung, so erzählte er mir, war die Erinnerung an das Gefängnis. Seine Eltern waren kurdische Freiheitskämpfer, die von der iranischen Regierung eingesperrt wurden. Immer und immer wieder. Das erste Mal, als seine Mutter mit ihm noch schwanger war. Dabei hätten seine Eltern ein schönes Leben haben können, sie waren Intellektuelle, sein Vater ein bekannter Komponist. Doch sie entschieden sich für den Kampf. Für den Widerstand. Für die Freiheit. Als auch der kleine Giwar in einer Zelle landete, reichte es ihnen aber schließlich. Das Rote Kreuz brachte die Familie erst nach Frankreich, dann nach Deutschland. Nach Bonn.

Dort wuchs er in einfachsten Verhältnissen auf. Verhältnisse, mit denen er sich nicht abfinden wollte. Er lebte auf dem Brüser Berg. Ein Viertel, in dem Reichtum und Armut, Diplomaten und Sozialhilfeempfänger, Gymnasium und Hauptschule nur durch eine Straße getrennt waren. Auf dem Brüser Berg kam alles zusammen, was besser nicht zusammegefunden hätte. Die Klugen. Die Skrupellosen. Und die Kriminellen. Giwar lebte in allen Welten. Er begann Drogen zu verkaufen, um sich Geld zu verdienen, machte das aber klüger, als all die anderen. Er sah das als eine Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Bis er Dr. Dre entdeckte, einen Mann, der auf „The Chronic“ über das Leben rappte, was Giwar zu leben glaubte, aber nie wirklich erstrebenswert fand. Ein Album, das ihn tief prägte.

Giwar wollte das auch. Rappen. Er sah HipHop als eine Möglichkeit, als eine Perspektive, sich aus dem Leben zu befreien, dass er nicht leben wollte. Er wollte über das, was er erlebt hatte erzählen, echten, authentischen deutschen Straßenrap machen. Nicht so, wie die Industrie-Rapper, die bloß die Geschichten von anderen erzählten, er wollte echt und authentisch sein. Giwar wollte sich ein Label aufbauen, ein Album aufnehmen und Musikvideos drehen. Das war teuer. Also begann er wieder Drogen zu verkaufen. Manchmal, dachte er, muss man durch den Dreck gehen, um dem Dreck zu entfliehen. Doch wer durch den Dreck geht, läuft Risiko, in ihm zu versinken.

Giwar schmuggelte Kokain, dass er in Marmeladengläsern anliefern ließ. Irgendwann fiel ihm eine Palette dieser Gläser herunter. Und von nun an schuldete er einigen unangenehmen Zeitgenossen sehr viel Geld. Sein Ausweg – der Überfall auf den Goldtransporter. Das war die Kurzfassung.

Sein Leben war geprägt von Straßenpolitik

Ich lernte in vielen Gesprächen einen Menschen kennen, der tief in meinem Herzen geblieben ist. Eine Person voller Widersprüche. Giwar kam aus einem gutem Elternhaus, identfizierte sich aber mit der Straße. Er war hochgebildet, studierte in Großbritannien International Business, beherrschte aber die Sprache der Gosse, wie kein Zweiter. Er hatte eine musikalische Frühausbildung, konnte Bach und Chopin am Klavier spielen und zugleich eine tiefe Liebe und ein tiefes Verständnis für HipHop und Popkultur. An einem Abend mit Giwar, konnte ich mehr über die Welt lernen, als in zwei Jahren auf der Journalistenschule. Giwar war jemand, der alles gesehen hatte. Armut und Reichtum, Elend und Luxus, Gewalt und Diplomatie. Man konnte mit ihm tiefe Gespräche führen und lernen, die Welt aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Er hatte diese Gabe andere Menschen zu inspirieren. Das wird jeder bestätigen, der ihm jemals begegnet ist.

Ich lernte aber auch einen Mann kennen, dessen Leben geprägt war von Politik. Nicht von der klassischen, parlamentarischen Politik. Von Straßenpolitik. Von Leuten, die von links und von rechts kamen, die etwas wollten, die etwas planten. Manche hatten Gutes im Sinne. Manche nicht. Das war nicht immer so ganz klar erkennbar. Auch für ihn nicht. Meistens ging es um Geschäftsideen. Oder um Musik. Ich kann mich nicht erinnern, dass sein Handy einmal nicht vibrierte. Ruhe war ein Fremdwort in seinem Leben.

Nur einmal fand er sie. Als er im Gefängnis saß. Damals, erzählte er mir, hätte er zum ersten Mal die Zeit gefunden, sein Leben zu reflektieren. Dieses Leben, das eigentlich mehr einer Achterbahnfahrt glich. Er erkannte, dass er da in etwas reingeraten war, dass sich nicht mehr kontrollieren ließ. Er fühlte sich, als würde er mit 300 Sachen auf einer Autobahn fahren und nicht mehr bremsen können. Er war ein Getriebener, jemand, der nur noch reagieren, aber nicht mehr frei handeln konnte. Das wollte er ändern.

Im Gefängnis ordnete er sein Leben. Er dribbelte da etwas. Er schmuggelte sich ein Handy und ein Diktiergerät in seine Zelle. Mit dem Diktiergerät nahm er heimlich ein Album auf, in seiner Zelle. Unter seiner Bettdecke. Mit dem Handy begann er sich sein Label wieder neu aufzubauen. Als wir uns das erste Mal trafen, da war er hungrig. Er hatte Hunger auf das Leben. Er wollte es noch einmal wissen. Es allen zeigen. Er wollte kein Getriebener mehr sein, sondern die Dinge endlich selber in die Hand nehmen. Legal. Er wollte, das andere aus seinen Fehlern lernten.

Nach seiner Haftentlassung machte er wahr, was er sich vorgenommen hatte. Sein Comeback-Album „Baba aller Babas“ war ein Riesenereignis. Sein Buch wurde zu einem Bestseller. Er baute sich ein Imperium auf. Er mietete in Köln einen Turm an, den Goldmann-Tower, in dem er Studios einrichtete, Firmen gründete, seine Kreativität schien keine Grenzen mehr zu haben. Selbst aus alten Memes machte er noch Geschäfte und gründete einen Köfte-Imbiss. Alles was er anfasste, schien zu Gold zu werden. Wie passend.

Und dann verfilmte Fatih Akin sein Leben. „Rheingold“ wurde zu einem Riesenhit. Einem der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der vergangenen Jahre. Akin sagte, dass die Geschichte von Hajabi eine deutsche Geschichte sei, eine Geschichte, die uns etwas über dieses Land erzählt. Und ich dachte, dass kein Regisseur der Welt sie anfassen würde, weil sie doch viel zu groß für einen Kinofilm war. Aber Giwar hatte wieder gedribbelt. Und wurde weit über Szenekreise hinaus bekannt. Er prägte und veränderte deutschen Rap. Als Künstler. Und als Labelchef. Über Generationen hinweg.

Er blieb ein Getriebener, sein Leben lang

Aber Giwar hatte noch nicht genug. Er wollte mehr, hatte immer neue Ideen, er wollte alles erleben, alles sehen. Er war süchtig nach dem Leben und den Möglichkeiten, die dieses Leben ihm bot. Er hastete von Projekt zu Projekt. Und wirkte zunehmend wieder wie ein Getriebener. Der nur noch auf das Gaspedal trat und die Bremse aus dem Blick verlor. Irgendwann wurde es zu viel. Filme, Serien, hunderte Künstler, die alle auf ihn setzten, Gastronomie, Musik - er verlor sich in seinen Visionen, weil er ihnen im Tagesgeschäft nicht mehr Herr werden konnte.

Vor einem Jahr musste er mit seinem Goldmann-Unternehmen Insolvenz anmelden. Von diesem Zeitpunkt an, zog er sich zunehmend zurück. Selbst viele seiner Freunde kamen nicht mehr richtig an ihn heran. Machten sich Sorgen. Niemand wusste so ganz genau, was mit ihm los war. Es wurde spekuliert. Gerüchte kamen auf. Zog er sich nur zurück, um Anlauf für das nächste, große Ding zu nehmen? Was hatte er geplant, ein riesiges Comeback? Viele rechneten damit. Giwar würde das schon dribbeln. So, wie Giwar doch immer alles dribbelte.

Nur dieses Mal gelang es ihm nicht.

In der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurde Giwar Hajabi im Alter von 43 Jahren in einer Kölner Wohnung tot aufgefunden. Giwar wird fehlen. Als Ehemann. Als Vater. Als Mentor. Als Visionär. Als jemand, der sein Leben für eine Kultur gegeben hat, die ihm alles bedeutete. Und als ein Freund, der nicht ersetzbar ist. Aber er wird auch bleiben. Als jemand, der deutschen HipHop geprägt und verändert hat und als ein Mann, der zwei Generationen inspiriert und beeinflusst hat. Er hat Fußspuren hinterlassen, an die man sich erinnern wird.

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