Die „Oslo Stories“-Trilogie des Norwegers Dag Johan Haugerud ist die Entdeckung des Jahres. In „Liebe“ geht es um eine Urologin Ende 40, die tagsüber Männern ihre Krebsdiagnosen überbringt und sich abends ins Dating-Leben stürzt. „Träume“ handelt von einer Schülerin, die sich in ihre Lehrerin verliebt und ein Verhältnis mit ihr beginnt. „Sehnsucht“ erzählt von einem Schornsteinfeger, der seiner Frau beichtet, dass er Sex mit einem Mann hatte.

Die Filme funktionieren unabhängig voneinander, verbunden sind sie nur über das Thema Begehren und den leichten, schwebenden Ton, der die Durchschnittshelden durch ihren Alltag trägt. Die besondere Unaufgeregtheit, die die offenherzigen Gespräche über Missbrauch genauso grundiert wie die über homosexuelles Erwachen oder Inkontinenz, heben Haugeruds Großstadtmeditationen aus dem Genre-Einerlei des Gegenwartskinos hervor. Es ist eine Poetik der Entskandalisierung, die der 60-jährige Regisseur entwirft, und deren Berechtigung er immer schon mit thematisiert.

Die Figuren regen sich nicht auf, wenn ihnen Dinge passieren, über die man sich normalerweise aufregt, aber sie fragen sich, ob sie sich vielleicht besser aufregen sollten: wenn die minderjährige Tochter sich heimlich mit ihrer Lehrerin trifft, wenn der Ehemann einen betrügt und sich nicht einmal schlecht dabei fühlt, oder wenn das Date einem nach dem Sex nonchalant erzählt, dass er verheiratet ist und Dating-Apps als Gratis-Bordell benutzt.

Dass die „Oslo Trilogie“ zum Erotischsten gehört, was seit langer Zeit im Kino zu sehen war, heißt nicht, dass viel Nacktheit, Stöhnen und Küssen ihren Weg auf die Leinwand finden würden. Vielmehr entsteht die Erotik im Stricken eines Pullovers, im Philosophieren über Anziehungskraft oder Einkaufen für einen Kranken. Intimität entwickelt sich nicht zwischen zwei Körpern, sondern im Gespräch zwischen Menschen, die sich gegenseitig ihre Gedanken und Bedürfnisse offenbaren – sei es von Arbeitskollege zu Arbeitskollege, von Mutter zu Großmutter, von Ehemann zu Ehefrau, von Freundin zu Freundin oder von Fremder zu Fremdem.

Am eindrücklichsten zeigt sich die Kraft der Sprache in „Träume“, einem der bezauberndsten Berlinale-Gewinner der vergangenen Jahre. Das ergreifend zarte Coming-of-Age-Drama tritt zur Ehrenrettung des Voice-Overs an, das selten so überzeugend und überbordend eingesetzt wurde wie hier: als Tagebucheinträge, Therapeuten-Geständnis und familiäre Beichte.

Wie nah sich Schmerz und Glück im Zustand der Verliebtheit sind, fängt die poetisch-nahbare Teenager-Erzählstimme von Johanne (Ella Øverbye) eindrücklich ein. Tagelang fühlt sie sich krank vor Verlangen, stellt sich vor, was ihre Lehrerin Johanna (Selome Emnetu) zum Frühstück isst („Ich stelle mir vor, Croissants“), lernt extra stricken, nur, um ihr nah zu kommen, erblasst, wenn sie sie auf dem Schulhof erblickt. Haugerud versetzt den Zuschauer mit allen Mitteln der Cringe-Comedy zurück in diesen schrecklich-schönen Zustand jugendlicher erster Liebe. In den Schock und den Kummer und das Dahinsiechen ohne Hoffnung darauf, von irgendwem verstanden zu werden.

Widerstand gegen Kategorien

Dass Haugerud auch Romane schreibt, merkt man seinen intellektualistischen, aber nie prätentiösen oder komplizierten Konstellationen an: Inspiriert, so zu lieben, wie sie es tut, wurde Johanne etwa durch die Lektüre eines Romans. In Romanform verarbeitet sie später auch ihre eigenen Erfahrungen. Die Liebe erweist sich in „Träume“ als Konstrukt, die Krise der Repräsentation als lustig und mitreißend zugleich. Alle paar Minuten ändert sich der Blick auf die Beziehung zwischen Johanne und Johanna. Johannes Mutter Kristin (Ane Dahl Torp) etwa sieht in der Affäre in einem Moment noch einen Missbrauchsfall und schon im nächsten ein Zeugnis queerer Selbstermächtigung.

Die Lehrerin geht sogar so weit, gegenüber der Mutter anzudeuten, dass es eigentlich ihre Tochter gewesen sei, die wiederum sie, die Lehrerin missbraucht habe. Das Ereignis selbst wird ausgespart, liegt als Leerstelle vor Filmbeginn. Eine Auflösung gibt es nicht – nur zahlreiche schimmernde Interpretationen. Wahrheit entsteht und wandelt sich im Sprechen und Schreiben.

Bei aller Ernsthaftigkeit, mit der Haugerud seine Themen und Figuren nimmt, erinnern deren Überlegungen oft an eine brillante Satire auf Identitätspolitik, liberale Erziehungsmethoden und Künstler-Milieu-Eitelkeiten. Etwa, wenn ein Patient in „Liebe“ nach seiner Krebsdiagnose als allererstes sagt, dass er nicht einer dieser glatzköpfigen Comedians sein will, die über ihre Erkrankung Witze machen.

Dag Johan Haugerud ist so etwas wie der norwegische Pedro Almodóvar, der queere Sean Baker. Einer der wenigen männlichen Gegenwartsregisseure, die sich so kompromisslos weiblichen Perspektiven verschreiben, dass man manchmal gar nicht glauben kann, aus wessen Feder der Film stammt. In „Träume“ etwa kommen fast ausschließlich Frauen vor – Johanna, Johanne, Johannes Mutter und Großmutter, die Lektorin der Großmutter und Johannas Ex-Freundin. Aber es sind nicht nur die Figuren, sondern insbesondere Haugeruds Blick auf die Welt, der von einer besonderen Zartheit, Sanftheit und dem Sinn für Details, das Kleine, Nebensächliche, Randständige geprägt ist.

Die Filme selbst widerstehen einer einfachen Einordnung als „queer“ oder „feministisch“. Sowohl, indem sie sich einer klassischen Coming-out-Erzählung verweigern – weder die Schülerin, die ihre Lehrerin liebt, noch der Schornsteinfeger, der mit einem Mann schläft, sehen sich selbst als „queer“ oder „homosexuell“ –, als auch, indem sie sich anderen Aspekten wie dem Altersunterschied, dem Machtverhältnis oder dem Ehebruch ebenso fürsorglich widmen wie der Gleichgeschlechtlichkeit. Haugeruds Filme tragen einen schwebend aus dem Kino – und in die nächste Bar, wo man nicht nur Lust bekommt, über das Gesehene zu sprechen, sondern auch über die eigenen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Träume.

„Oslo Stories: Liebe“ läuft seit dem 17. April, „Träume“ ab 8. Mai und „Sehnsucht“ ab 22. Mai im Kino.

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