Islands“ ist eine Offenbarung – ein vordergründig kleiner Film, der eine kleine Geschichte erzählt: Ein Tennistrainer auf Fuerteventura, dem der Sinn des Lebens abhandengekommen ist, sieht sich unverhofft mit seiner Vergangenheit konfrontiert – und einem möglichen Mordfall. Wie Jan-Ole Gerster, der Regisseur von „Oh Boy“, das aber inszeniert, als unglaublich stilsicheren „Vacation Noir“, wie er sagt, mit seinen fantastischen Schauspielern Sam Riley und Stacy Martin, das ist im deutschen Kino einsame Spitze.

Welt am Sonntag: Bei manchen Filmen wirkt die Atmosphäre stärker nach als die Handlung. Bei „Islands“ ging es mir so.

Jan-Ole Gerster: Das nehme ich als Kompliment wahr. Eine Atmosphäre zu kreieren, die beim Zuschauer bleibt und sich in die Erinnerung eingräbt – das würde mir gefallen. Der Film beschäftigt sich sehr mit der Frage nach der Atmosphäre: Wie kreieren wir sie? Wie tragen die Bilder, der Ton, die Musik und die Art der Inszenierung dazu bei?

WAMS: Ich fühlte mich beim Schauen stark an Antonioni erinnert, an Filme wie „La Notte“ oder „Beruf: Reporter“ mit Jack Nicholson. Die sengende Hitze, die modernistischen Bauten, die Melancholie …

Gerster: Und die Verlorenheit der Figuren, die nebeneinander her existieren und trotzdem alleine bleiben. Das ist auch die Idee hinter dem Titel des Films, „Islands“. Sie stehen in einem Zusammenhang und sind trotzdem alle einsame Inseln. Natürlich habe ich nichts gegen Antonioni-Vergleiche. Früh kam tatsächlich „L’Avventura“ im Gespräch auf, weil eine Person verschwindet und wir auf einer Insel sind. Aber Sie erwähnen auch „Beruf: Reporter“ – ich verstehe, dass man darauf kommen kann.

Als wir am Drehort waren und Sam in den Jeep stieg, die Sonnenbrille aufsetzte und sein Jack-Nicholson-Grinsen zeigte, dachte ich auch: Das ist „Beruf: Reporter“! Bis dahin hatte ich nicht daran gedacht. Es ist doch schön, wenn all diese Filme aufpoppen. Aber natürlich ist der größte Anspruch immer, einen eigenen erzählerischen Kosmos zu kreieren. Niemand strebt eine künstlerische Karriere an, bei der alle sagen: „Dein Werk ist so wie das oder jenes.“ Wir bewundern ja Leute wie Kaurismäki, Wes Anderson oder Tarantino – Filmemacher, bei denen man zwei Frames sieht und sofort weiß: Das ist ein Wes-Anderson-Film oder ein Tarantino-Film.

WAMS: Das kann natürlich auch ein Gefängnis sein. Ich verfolge die Arbeit von Wes Anderson mit großem Enthusiasmus, während viele meiner filmbegeisterten Freunde ihn aufgegeben haben.

Gerster: Ich habe auch irgendwann aufgegeben. Trotzdem bewundere ich diesen Kosmos. Ich weiß nicht, ob er ihn selbst als Gefängnis empfindet und gerne mal einen Handheld-Sozialfilm à la Mike Leigh drehen würde. Viele laufen sich tot, aber manche finden auch zurück. Jim Jarmusch ist es gelungen, sich in seinem eigenen Gefängnis neu zu erfinden und zu befreien. Beim letzten Kaurismäki-Film hatte ich auch den Eindruck. Die Filme von Kaurismäki wirken wie Raymond-Carver-Kurzgeschichten – man denkt, so etwas könnte man auch schreiben, und scheitert dann kläglich. Sie erzählen scheinbar einfache Begegnungen von zwei Menschen. Die Welt ist gegen sie, sie haben Pech, und trotzdem finden sie die Liebe, und darin sind sie unbesiegbar.

WAMS: Wie würden Sie Ihre eigene Filmsprache beschreiben? Zwei Ideen: Es gibt eine formale Klarheit. Und Ihre Figuren bewahren ihre Würde, ihr Geheimnis.

Gerster: Meine Figuren verharren oft in einer Situation, aus der sie nicht herauskommen oder es nicht wollen. Deshalb sind sie naturgemäß nicht sehr expressiv, teilen sich nicht permanent mit und analysieren sich auch nicht selbst. Dadurch bleiben sie immer ein bisschen unnahbar und geheimnisvoll. Die Gefahr könnte sein, dass sie dadurch auch belanglos wirken. Aber ich hatte das Glück, immer mit Schauspielern zu arbeiten, die verstanden haben, was ich in den Figuren erzählen will, und die es vermochten, diese inneren Konflikte deutlich zu machen.

Im Fall von Sam Rileys Figur Tom ist es so, dass sie sich kaum mitteilt. Wir haben aber trotzdem eine Idee davon, was ihn zu einem „troubled character“ macht und welche Prozesse die Begegnung mit der Familie in ihm in Gang setzt. Das ist mein großes Glück als Filmemacher: Schauspieler zu haben, die die Qualität besitzen, zu einer Projektionsfläche zu werden, auf die wir all diese Geheimnisse werfen können. Ein Tenniscoach auf Fuerteventura, der flüchtige Affären hat und ein bisschen viel trinkt, kann in den falschen schauspielerischen Händen auch schnell in ein schlimmes Klischee abdriften.

WAMS: Das Geheimnisvolle setzt sich auf der Plot-Ebene fort. Man könnte sagen, Sie flirten mit dem Genre – „Islands“ hat Thriller- und vor allem auch Noir-Elemente.

Gerster: Wir haben für uns den Begriff „Vacation Noir“ entdeckt. Letzten Sommer gab es bei Criterion eine kuratierte Filmreihe mit diesem Titel. Da kamen viele „Thriller in the Sun“-Filme zusammen: „Der talentierte Mr. Ripley“, der französische „Der Swimmingpool“ und „Ein Platz an der Sonne“. Da dachte ich, „Vacation Noir“ ist ein schöner Begriff auch für unseren Film.

WAMS: Genre-Elemente sind im deutschen Film eher unterrepräsentiert. Woran liegt das?

Gerster: Genre ist ja etwas, was aus dem Studiosystem hervorgegangen ist, um dem Zuschauer klar zu sagen: Du schaust jetzt einen Western, einen Horror, einen Krimi, eine Komödie. Das europäische Kino hat sich, mit Ausnahme des französischen, zu dem entwickelt, was wir heute „Art House“ nennen. Da sind die Spielformen freier. Wir haben in der Entwicklung des Films nie über „Thriller“ gesprochen. Wenn überhaupt über Genre, dann mit Begriffen wie „Neo-Noir“, weil irgendwann klar wurde, dass es diese Elemente gibt. Die Geschichte begann zu uns zu sprechen – plötzlich hatten wir einen Ermittler, einen verschwundenen Ehemann und eine Frau mit geheimnisvoller Aura.

Für mich ist es ein „European Thriller“ – etwas, das aus den Figuren heraus erwächst und nicht nur auf einer Plot-Ebene zu interessanten Wendungen führt, sondern auch von existenzialistischen Fragen unterströmt ist. Der Film kreist nicht nur um die Frage, was passiert ist, sondern was das in den Figuren aktiviert. Am Anfang stand die Idee, die solitäre Hauptfigur mit dem maximal entgegengesetzten Lebensentwurf zu konfrontieren: Familie, Verantwortung, Bindungen.

WAMS: „The Islands“ ist Ihr erster internationaler Film – nicht nur vom Drehort Fuerteventura her, sondern auch mit englischsprachigen Darstellern. Wie war diese Erfahrung?

Gerster: Es hat sich auf eine merkwürdige Art und Weise viel leichter und kompakter angefühlt als zum Beispiel mein letzter Film „Lara“ in Berlin. Für „Lara“ mussten wir eine Theater- oder Konzertspielstätte in der Hauptspielzeit für elf Tage blockieren – das war unfassbar schwer zu organisieren und zu drehen. Nach Fuerteventura zu kommen mit einem Team, das im gleichen Hotel wohnt, mit kurzen Arbeitswegen, wo man abends immer noch etwas bespricht – das habe ich als befreiend empfunden. Es war ein unfassbar schöner, produktiver und konstruktiver Dreh. Es hat sich nicht angefühlt, als würde ich in die Fremde gehen und meinen ersten internationalen Film machen. Von Anfang an haben die britischen Schauspieler, die spanischen und deutschen Teammitglieder toll zusammengearbeitet.

WAMS: Arbeitet man anders mit britischen als mit deutschen Schauspielern?

Gerster: Klar gibt es kulturelle Unterschiede zwischen dem englischsprachigen Raum und dem Rest der Welt. Sie haben einen anderen Bezug zu den Künsten – unglaublich, wie viele Bands dieses verhältnismäßig kleine Land zum Beispiel hervorgebracht hat. Storytelling scheint in der DNA dieser Leute zu liegen. Es ist erstaunlich, mit welchem Gespür für Timing und Atmosphäre Sam, Stacy und Jack vor die Kamera getreten sind. Ich habe selten mehr als drei Takes gemacht, und dann meistens aus technischen Gründen. Ich glaube, wir haben keinen einzigen Take wegen Texthängern wiederholt. Diese Präzision hat mich sprachlos gemacht und mir gezeigt, wie einfach das Leben als Regisseur sein kann. Sams Spitzname ist „One Take Riley“.

Wie aufs Stichwort kommt Sam Riley herein und besteht darauf, Gerster 20 Euro zurückzugeben, die er sich für Zigaretten geliehen hat.

Gerster: Egal, wie klein die Szene war, Sam geht zu jedem Kollegen, der auch nur ein paar Sätze sprechen muss, und sagt: „Sollen wir den Text durchgehen?“ Er verkriecht sich nie in den Trailer, sondern sucht immer die Nähe zu den Kollegen. So sind die Schauspieler perfekt vorbereitet, und wir haben tatsächlich nie mehr als zwei, drei Takes gebraucht.

WAMS: Zwischen „Oh Boy“ und „Lara“ lagen sieben Jahre. Und dann vergingen wieder sechs bis „Islands“. Wie hält man das aus, nicht nur psychisch, sondern auch finanziell?

Gerster: Mein Leben zwischen „Oh Boy“ und „Lara“ war nicht sehr kostspielig. Ich habe günstig gelebt und hatte das Glück, dass ich doch relativ viel Geld verdient habe – nicht übertrieben viel, aber konnte mich einige Zeit über Wasser halten. Und weil „Oh Boy“ so günstig war, nur 250.000 Euro gekostet hatte, war er schnell im grünen Bereich. Da ich auch Anteile hatte, habe ich zumindest so viel verdient, dass es mich einige Jahre hat überleben lassen. Inzwischen, mit Familie und zwei Kindern ist es schwieriger. Und durch die Filmfördergesetze, die noch nicht richtig greifen, gab es einen Produktions- und Finanzierungsstau, der dazu führt, dass ich meinen nächsten Dreh nach 2026 verschieben musste.

WAMS: Noch ein Grund, mehr über die deutschen Grenzen hinauszuschauen. Das machen ja immer mehr deutsche Regisseure.

Gerster: Absolut. Ich war letztes Jahr im Kino und habe drei Trailer von internationalen Filmen mit deutschen Regisseuren gesehen: Edward Bergers „Konklave“, Nora Fingscheidts „Outrun“ und Tim Fehlbaums „September 5“. Das wäre vor zehn, fünfzehn Jahren undenkbar gewesen. Damals hieß es: „Wozu brauchen wir diese ganzen Filmschulen?“ Und auf einmal sind deutsche Regisseure extrem gefragt. Ich bekomme auch immer wieder Anfragen aus dem Ausland und empfinde es als beglückend, dass wir uns öffnen und der deutsche Film nicht mehr nur ein Süppchen ist, das wir hier kochen und konsumieren. Gerade in einer Ära, in der überall Protektionismus aufkommt, finde ich es toll, dass es im Kino anders ist. Auch bei den Schauspielern: Christian Friedel war gerade in „White Lotus“, dann haben wir Sandra Hüller, Franz Rogowski, Vicky Krieps, Lars Eidinger, Daniel Brühl – alles Leute, die international enorm gefragt sind. Früher hat man sich schon gefreut, wenn Klaus Maria Brandauer mal im Bond aufgetreten ist.

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