Irgendetwas fehlt an diesem Abend, das auf dem Weg vom Buch zur Bühne verloren gegangen ist. So beschreibt Han Kang, die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin, in ihrem Welterfolg „Die Vegetarierin“, wie der Körper der Protagonistin stundenlang mit kunst- und fantasievoller Blumenmalerei verziert wird, in prächtigen Farben. Ausgedacht hat sich das ihr Schwager, ein Videokünstler, der mit dieser Obsession aus seiner Schaffenskrise zu kommen versucht. Und was wird daraus bei der deutschsprachigen Erstaufführung von Marie Schleef am Wiener Akademietheater? Ein schnödes Pfff aus der Spraydose, das ein paar grüne Kringel auf der nackten Haut hinterlässt, mehr nicht.
Schleef komprimiert die Handlung des Romans auf das Nötigste, dafür läuft auf der Bühne alles in Zeitlupe ab. Ein Markenzeichen der jungen Regisseurin, die kürzlich am Staatstheater Wiesbaden eine wortlose Reinigungsmeditation mit Männlichkeitskritik inszenierte („Er putzt“). Erstes Irritationsmoment: Alles wird verlangsamt, nur das Sprechen nicht. Komisch. So bleibt der Abend aber immerhin bei knapp zwei Stunden. Zweites Irritationsmoment: Es bleibt immer gleich langsam, sodass es schnell egal wird. Wie bei einem Ton auf gleichbleibender Höhe fehlen die Ausschläge, die eine Melodie machen. Die Entdeckung der Langsamkeit lässt keine szenische Spannung entstehen.
„Ich esse keine tierischen Produkte mehr“, sagt die von Kotti Yun gespielte Yong-Hye, die Vegetarierin (eigentlich: Veganerin), um die sich alles dreht. Zuvor schleppt sie ein halbes Schwein, ein Reh und einen Menschen auf die Bühne, alle in Plastik eingewickelt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in der Stadt der Schnitzel und des Gulaschs? Es könnte drastisch wirken, wenn die Requisiten nicht wie auch die verständnislosen Eltern (Hans Dieter Knebel und Dunja Sowinetz) ausschauten, als wären sie plötzlich auf der Bühne vergessen worden, während Ernest Allan Hausmann als ungläubiger Ehemann seine Zeitlupenpirouetten vor weißen Riesengardinen (Bühne von Lina Oanh Nguyên) dreht.
Wie Antigone
Der Abend will auf große Bilder hinaus und vergisst dabei die feinen Kontrastmittel des Buches. Zum Beispiel wird der als besonders durchschnittlich gelobte Alltag des Ehepaars weggelassen, den Yong-Hye so unheimlich durcheinanderwirbelt. Auch wird die sich zur sexuellen Obsession steigernde Kunstfantasie des Schwagers (Philipp Hauß) kurzerhand zum Softpornodreh zusammengekürzt. Und die widerstreitenden Gefühle der Schwester (Andrea Henkel) beim Besuch in der psychiatrischen Klinik werden von der brutalen Szene der Zwangsernährung überlagert. Es sind solche Nuancen, die fehlen – wie das Salz in der faden Suppe für Entschleunigungsbedürftige.
Und doch, trotz der paar Einwände, beweist die 1990 geborene Schleef bei ihrem Debüt am Burgtheater, dass „Die Vegetarierin“ das Zeug zur spätmodernen Tragödie hat. Wie die antike Heldin Antigone folgt die Protagonistin einem höheren Gesetz, das sie von der Familie und der Gesellschaft entfremdet. Sie will der „gesunden“, vor Blut triefenden Kultur entkommen, sie will die Gaben dieser Zivilisation nicht mehr aufnehmen und am Ende verschwinden, indem sie mit den Bäumen verschmilzt. Ihre stille Rebellion gegen das Fressen und Gefressenwerden ist die Sehnsucht nach einer anderen Ökologie, einem weniger blutigen Kreislauf des Lebens. Und dafür will sie tatsächlich sterben.
Was Hong-Hye mit den tragischen Bühnenhelden verbindet, ist ein Begehren, das den Tod nicht scheut, sondern sogar sucht. Der sie beherrschende Todestrieb löst in ihrem Umfeld heftige Irritationen aus: Ihr Durchschnittsehemann ist entsetzt, ihre Familie aggressiv besorgt, ihr Schwager pervers fasziniert. Wie der Philosoph Jean Baudrillard geschrieben hat, ist der Tod das Tabu in der symbolischen Zirkulation der spätmodernen Gesellschaft, die einen mit ihren Gaben erstickt. „Ist es denn verboten, zu sterben?“, schreit Yong-Hye am Ende auf, als sie in der Psychiatrie gefangen ist. Nach Baudrillard ist es die Logik der Sorge, die das Sterben verhindert, indem sie das Leben bekämpft.
In dem beeindruckenden Schlussbild, das alle Naturverschmelzungsfantasien in eine kosmische Katastrophe kippen lässt, blitzt etwas von dem auf, was man eine Tragödie des Anthropozän nennen könnte. Was Yong-Hye unerträglich geworden ist, von der Fleischindustrie bis zur Naturbeherrschung als solcher, bleibt bei ihrer Schwester zwiespältig. Sie bleibt an der Schwelle zum Todestrieb stehen, weil sie einen Sohn hat, der die Erbschaft dieser Zeit der Katastrophen antreten wird. Ist das ein Bild der Hoffnung? Oder der Resignation? Es bleibt so rätselhaft wie das selbst gewählte Zugrundegehen der Titelheldin. Menschheitsfrage ungelöst, wie immer in der Tragödie.
Der Abend wird einem mit seiner erdrückenden Langsamkeit und beklemmenden Nacktheit in Erinnerung bleiben. Das hat eine Intensität, der man sich kaum entziehen kann, und bleibt dem Stoff doch auch äußerlich. So stolpert die Inszenierung über das, was sie gleichzeitig bemerkenswert macht: das formale Prinzip. Die Zeitlupenoptik wird sogar bis in den Schlussapplaus verlängert und bietet dem Premierenpublikum beim anschließenden Umtrunk noch einige Gelegenheiten zur parodistischen Nachahmung. Klar, Theater kann alles, auch langsam. Nur könnte man mit „Die Vegetarierin“ noch viel mehr zeigen. Die fein gezeichneten Blumen zum Beispiel, weniger die grobe Spraydose.
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