Was gibt es Sinnlich-Köstlicheres in der Kunstbetrachtung als Meisterzeichnungen der Renaissance und des Barocks auf Papier? Die Raffinesse, mit der etwa der aufgeraute Silberstift, die Feder für Konturzeichnung, weiße Höhungen für lebendige Dreidimensionalität sowie Lavierung für Tiefenwirkung ein Wesen oder einen Gegenstand auf dem unebenen, aber aufnahmefähigen Papier erstehen lassen, kitzelt den Genuss. Besonders auf farbigem Untergrund und in der Anschauung aus nächster Nähe lässt das geradezu erschaudern.
Die Wertschätzung jenseits und diesseits der Alpen allerdings war unterschiedlich. Den italienischen Künstlern blieben diese Blätter oftmals Arbeitsmaterial, schnell hingeworfene, flüchtige Augenblicksinspirationen, die immer weiter ergänzt wurden. Den Nordländern dienten sie häufiger und stetiger auch als fertiges Werk, als ein verkaufbares Objekt von höchst intimer, intensiver Gestaltungskraft.
Ralph Gleis, der als neuer Direktor gerade auf den immens erfolgreichen Klaus Albrecht Schröder gefolgt ist, besinnt sich in seiner Antrittsschau an der Wiener Albertina auf Werke auf buntem Papier. Diese sind in der weltberühmten und größten Grafiksammlung – sie stammt aus der Habsburger Nebenlinie des Herzogs Albert von Sachsen-Teschen, der mit Maria Theresias Lieblingstochter Marie Christine verheiratet war – überreich vertreten.
In der kostbaren Schau „Leonardo – Dürer“ wird nicht gekleckert, sondern geklotzt: Es geht gleich los mit Gewandstudien von Leonardo da Vinci (oftmals auf graue Leinwand gemalt), für die er mit Gips getränkte Stoffstücke arrangierte. Frühe, sprechende Beispiele sind auch Pisanellos androgyne „Allegorie der Luxuria“ auf zartem Pink und eine fantastisch modern anmutende, weil größtenteils durch Weißhöhungen auf braunen Landschaftsuntergrund wie ein Negativ aufgebaute „Heimsuchung Mariens“ von Lorenzo Monaco, die aus Berlin geliehen wurde.
Die Schau findet ihren Höhepunkt in den wunderbaren Folgen von Albrecht Dürer. Zentriert sind sie um die wieder einmal als hauseigene Inkunabel öffentlich ausgestellten, auf hellem Blau so minimalistisch wie lebensecht pulsierend gezeichneten „Betenden Hände“ eines im nicht mehr existierenden Heller-Altar platzierten Apostels. Dazu kommen passende Draperiestudien und eine Kopfzeichnung, einst auf demselben Blatt, heute abgeschnitten. Das allein ist schon atemraubend zu sehen, wie auf dem Weg bis zu Dürer die verschiedenen zeitgenössischen Künstler mit dem Problem der Tiefenwirkung umgegangen sind, wie Gestrichel in der Wechselwirkung bei dem einem flächig dicht wirkt und bei dem anderen durchlässig zart.
Allein 26 Werke von Leonardo da Vinci sind hier aus diversen Sammlungen bis hin zu den nun als „lent by His Majesty King Charles III“ firmierenden Stücke der britischen Royal Collection aufgeboten. Und neuerlich fasziniert die universelle Neugier dieses Genies, das so viele unterschiedliche Themen als Denkvorgänge auf kleine Blätter packt, umlaufen auch noch von seiner charakteristisch engen Spiegelschrift.
Dann rührt es wieder unmittelbar an, wie sorgsam sich dieser offensichtliche Pferdeliebhaber und Bewunderer der Gestaltungskraft der Natur den Fesseln, Flanken, Schenkeln der Vierbeiner, als auch der mythischen Kentauren widmet. Die Pferde rückten dabei natürlich meist als Grundlage diverser Reiterstandbilder in den Künstler-Fokus, am berühmtesten wäre das viel zu monumentale, nie verwirklichte für Francesco Forza zu nennen.
Der Bogen der 146 grandiosen Blätter spannt sich von frühen Italienern über Leonardo (schon sein „Bär“ im Original allein lohnt den Besuch), von Tizian bis Dürer und die Donauschule mit niederländischen Ausblicken zu Jan Gossaert. Und neben der Schule des schwelgerischen Schauens ist diese konzentrierte und doch reiche Ausstellung – dafür steht der Untertitel „Meisterzeichnungen der Renaissance auf farbigem Grund“ – auch eine Übung in Didaktik über den Gebrauch und die Verwendung von farbigem Papier als Grundlage besonders edler, aber trotzdem spontan lebensnaher Zeichnungen.
Schon um 1400 verfertigte Cennino Cennini eine erste Technikanleitung für das neuerdings leichter herzustellende und auch zu tönende Papier. Ocker und Blutstein lieferten die Farben für rötliche Blätter, geräucherter Pflanzenstaub für die dunkleren. Die vor allem in Italien geschätzten, grob-billigen, aber gut für die Werkzeuge kompatiblen blauen Papiere hießen „carta azzurra“. Dürer waren sie zu schäbig, er grundierte weit aufwendiger selbst. Mit bis heute andauerndem Deluxe-Effekt, welcher seine Gewandfalten, Hände, Köpfe so extraordinär schwebend leuchten lässt.
Die bis dato monochrom akademisch sauber schwarz auf weiß gesetzte Welt der Zeichnung als Vorlage für das Atelier, Festhalten einer Idee, Verfeinern eines Modells wurde um 1400 plötzlich poppig bunt und erhielt einen gewissen Swing – und verwandelte sich selbst in ein Sammelobjekt. Da wurde mit Orange und Lila, Grün, Gelb und Violett experimentiert, ganz egal, ob Akt, Krippenszene, Porträt, Designobjekt oder Tier festzuhalten war.
Die so animierten, ja, in den Vordergrund gestellten Hintergründe bekamen ein psychedelisch anmutendes Strahlen, auf denen der entfesselte Zeichner in beide Richtungen von Hell nach Dunkel arbeiten, ganz neue Tricks und Wirkungen für das Abbilden von Wirklichkeit ausprobieren konnte. An diesen Wiener Wänden hängt gewissermaßen eine stille, aber nachhaltige Explosion der Renaissance-Kunst, ein Fest der Farbe, ein ästhetischer Wandel in der Nussschale; die hier ein wie immer großes Blatt Buntpapier ist.
Die intime Grafik zeigt den Markt künstlerischer Möglichkeiten. Als stilistischer Spielplatz wie als ökonomische Zone mit steigendem Verkaufswert. Das ist die Welt dessen, was später Vasari „Malerei ins Chiaroscuro“ nannte. Herrlich zu sehen, wie gut erhalten so manches „Hexenblatt“ von Hans Baldung Grien auch noch nach 500 Jahren ist, wie dann später Holzschneider und barocke Italiener die so gefundenen Ideen in andere, reproduzierbare Techniken übertrugen. Ein unerwartet breites Panorama tut sich in diesen hinreißenden Bildern auf.
Und am Ende ist dann doch immer wieder das Staunen, wie aus Schraffuren und Konturen von Feder, Pinsel, Kreide, Kohle oder Silberstift in Verbindung mit dem bunten Untergrund eine köstliche Blüte sprosst, ein kecker Engelskopf die Locken schüttelt, eine Filippo-Lippi-Maria gen Himmel blickt oder ein nackter Kerl die prallen Muskeln spielen lässt. Die Kunst des Abendlandes wurde durch einen eigentlich einfachen Farbwechsel wieder ein wenig mehr ambivalenter und erwachsen. In der Albertina ist es wunderbar zu erleben.
„Leonardo – Dürer. Meisterzeichnungen der Renaissance auf farbigem Grund“, bis 9 Juni 2025, Albertina Wien
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