Internationale Topregisseure haben selten viel Zeit für ein Interview. Die Filmbranche ist durchprofessionalisiert und auf Effizienz getrimmt, Heerscharen von PR-Beratern bewachen ihre „Talents“ eifersüchtig. Gewöhnlich lungern Journalisten aus der ganzen Welt in virtuellen Warteräumen eilig anberaumter Zoom-Calls herum und werden im Zehn-Minuten-Takt vorgelassen – und mit einem barschen „last question!“ gleich wieder hinauskomplimentiert.
Schlimmer ist es auf Festivals, wo man sich fühlt wie auf einer kompetitiven Kaffeefahrt; in sogenannten Roundtables sitzen ein Dutzend Reporter hibbelig im Kreis, bemüht, wenigstens eine Frage loszuwerden, die nicht vom Nachbarn niedergebrüllt wird. Ein Gespräch kommt so natürlich nicht zustande. Das Ziel können nur Zitatfetzen sein, um sie wie eine Turboladung in die aus allen Rohren feuernde mediale Aufmerksamkeitsmaschine einzuspeisen.
Steven Soderbergh steht für solchen Quatsch nicht zur Verfügung. In Berlin empfängt der Regisseur von Filmen wie „Traffic“, „Erin Brockovich“, „Magic Mike“ oder der „Ocean’s“-Reihe im Hotelzimmer, für eine Dreiviertelstunde, allein, konzentriert, ohne Assistenten in der Ecke, die mit ihrem Telefon spielen. Kurz wundert man sich. Und findet es dann ganz natürlich. Genauso kennt man den Mann, aus seinen Filmen und seinen leicht obsessiv wirkenden Seitenprojekten.
Vor rund zehn Jahren, zum Spaß und zu Lernzwecken, hat er den Indiana-Jones-Film „Jäger des verlorenen Schatzes“ in Schwarz-Weiß neu geschnitten. „Die Idee war“, sagt Soderbergh, „sich durch Entfernen der Farbe und Ersetzen der Tonspur ausschließlich auf die Inszenierung zu konzentrieren. Ich wollte zeigen, wie Spielberg Einstellungen anordnet, welche Schnittmuster er verwendet.“
Es gibt noch mehr absonderliche Soderbergh-Recuts. So hat er Michael Ciminos Spätwestern „Heaven’s Gate“, der für seine fünfeinhalb Stunden Laufzeit berüchtigt ist, auf knackige anderthalb gestutzt. Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“, lange sein Lieblingsfilm, hat er ähnlich radikal umgeschnitten, bis alles wirkte, wie von der künstlichen Intelligenz HAL geträumt. „Als ich fertig war und den Film hochlud“, sagt Soderbergh, „schickte mir der Kubrick-Nachlass innerhalb einer Stunde eine Unterlassungserklärung.“ Danach habe er das Original nie wieder angeschaut: „Meine Beziehung dazu war vorbei.“
Merke: Filme sehen und Filme machen sind für Soderbergh mehr oder weniger das Gleiche. Sein Erweckungserlebnis war ein anderer Spielberg, „Der weiße Hai“. Er hat ihn Hunderte Male gesehen und schreibt gerade ein Buch über die Regiekunst, die auf dem Film basiert. „Bevor ich ihn als Kind zum ersten Mal sah“, sagt er, „waren Filme etwas, das man passiv konsumierte. Als ich herauskam, erkannte ich, dass Filme etwas sind, das man machen kann. Ein Schalter wurde umgelegt.“
Die Re-Cuts, auch die Idee zum Buch, fielen in die Zeit um 2013, als er ankündigte, sich vom Filmemachen zurückzuziehen; er werde sich fortan der Malerei widmen. Der Ruhestand währte keine paar Monate. Erst kam „Liberace“ mit Michael Douglas als schwuler Entertainer, dann die Krankenhausserie „The Knick“. Insgesamt hat er in den vergangenen zwölf Jahren elf Filme gedreht – darunter zwei mit einem iPhone –, sodass seine Filmografie jetzt insgesamt 36 umfasst. Eine eigene Produktionsfirma hatte er auch mal, zusammen mit George Clooney, bevor die Arbeit zu viel wurde und er sich lieber auf die praktischen Gewerke konzentrierte. Neben der Regie übernimmt Soderbergh nämlich auch immer Kamera und Schnitt, unter den Pseudonymen Peter Andrews und Mary Ann Bernard, den Namen seiner Eltern.
In der selbstauferlegten Mini-Auszeit erkannte er, dass es nicht der Job war, der ihm den Nerv raubte, sondern die Industrie. Im Grunde hat er sein ganzes Berufsleben mit ihr gerungen, seit seinem sensationellen Debüt „Sex, Lügen und Video“ von 1989, einem neurotischen Kammerspiel, mit dem der 26-Jährige als jüngster Regisseur jemals die Goldene Palme von Cannes gewann. Danach drehte er voller Enthusiasmus drei harte Flops, darunter ein schwarz-weißes Kafka-Biopic mit Jeremy Irons, das nur ein Zehntel seines Budgets einspielte. Der legendäre Kritiker Roger Ebert schrieb damals, 1991: „Soderbergh beweist erneut, dass er ein begnadeter Regisseur ist, auch wenn die Wahl seines Projekts unklug war.“
Es war eine andere Ära, wie Soderbergh, der eben auch scharfsichtiger Analytiker des Zeitgeists ist, am besten weiß: „Niemand würde nach so einer Serie heute noch eine Chance bekommen.“ Er bekam sie und gab Hollywood, was Hollywood will – einen Erfolg, in Form von „Out of Sight“, einer stylishen Adaption eines hart gesottenen Elmore-Leonard-Romans mit Clooney und Jennifer Lopez. Das wurde in Folge Soderberghs Rezept, abwechselnd Avantgarde und Kommerz. Seine Formel dafür lautet: „Einer für euch, einer für mich.“
Unter den „Einer für euch“-Filmen ist die „Ocean’s“-Reihe, ebenfalls mit Clooney an der Seite von Matt Damon und Brad Pitt. Die lässigen Casino-Räuberpistolen, die berühmten Vorgängern wie „Lautlos wie die Nacht“ ihre Reverenz erweisen, stellten sich selbst als Jackpot heraus; wenige Produktionen der Nullerjahre waren profitabler. Kosten von insgesamt 350 Millionen Dollar standen Erträge von 1,4 Milliarden Dollar gegenüber. Soderbergh genoss fortan den Ruf eines künstlerischen Kassenmagneten.
Eigentlich stoßen sich die beiden Pole ab. Wenn Soderbergh am besten ist, gelingt es ihm, sie in der Balance zu halten, so wie im gewieften Drogenthriller „Traffic“ (2000) mit Benicio del Toro in einer seiner besten Rollen. Für Soderbergh gab es damals den Regie-Oscar. Oder in „Erin Brockovich“ (ebenfalls 2000) mit Julia Roberts, einem Gerichtsdrama nach einer wahren Geschichte um eine Grundwasservergiftung. Auch hier stellte Soderbergh die typischen Hollywood-Regeln auf den Kopf; während seine Low-Budget-Produktionen, die er sozusagen zum Spaß dreht, oft Genre sind, Horror-Filme etwa, sind seine Blockbuster oft politisch und leisten sich ein soziales Gewissen.
Sein neuer Film „Black Bag“ ist intelligente Unterhaltung ohne große gesellschaftliche Ambitionen. Ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen zwei Agenten, die auch noch miteinander verheiratet sind. Cate Blanchett und Michael Fassbender führen einen fantastischen Cast an, in einem fintenreichen Hochglanz-Kammerspiel, in dem die heftigsten Schlagabtäusche am Esstisch stattfinden.
Soderbergh schildert detailliert, wie er sie vorbereitete – durch eine genaue Kartografie möglicher Blickwinkel. Vor Beginn der Dreharbeiten versammelte er die Schauspieler, setzte sie entsprechend hin und fotografierte. Die Fotos verteilte er auf die Dialogzeilen des Drehbuchs. „Schließlich klebte ich alle Einstellungen auf eine große Tafel und hakte sie ab“, sagt Soderbergh. Das höre sich ja regelrecht mathematisch an, sage ich. „Ja“, sagt er, „aber weil ich mir da solche Sorgen gemacht hatte, hatte ich, als wir zur Lügendetektor-Szene kamen – zehn Seiten, auf denen sich niemand bewegt –, keinen Plan.“ Da sei Improvisation angesagt gewesen.
Das Drehbuch stammt – ebenso übrigens wie das für den vorigen Soderbergh, „Presence“, einen Horror-Film aus der Perspektive des Gespenstes, der in Deutschland noch keinen Starttermin hat – von David Koepp, einer Legende der Branche. Er schrieb schon „Jurassic Park“, „Carlito’s Way“, den ersten „Mission Impossible“ oder den letzten „Indiana Jones“. „Black Bag“ ist womöglich eine Spur zu clever. Die Verwicklungen um ein gestohlenes Computervirus, geeignet, in einem Atomkraftwerk eine Kernschmelze herbeizuführen, sind so kompliziert, dass man, wenn im Kino das Licht angeht, nicht auf Anhieb sagen kann, wer was wie warum getan hat.
Aber das ist auch nicht so wichtig. Koepp und er selbst hätten schon versucht, „die spezifische Arithmetik der Handlung verständlich zu machen“, wie der stets analytische Soderbergh es ausdrückt. Letztlich sei der Plot aber „nur das trojanische Pferd, um von einer Ehe zu erzählen“.
Das gelingt sehr charmant. Die Kritiken sind überwältigend positiv. Trotzdem ist der Film in den USA gefloppt und hat von seinen kolportierten Produktionskosten von 60 Millionen Dollar nur etwas mehr als die Hälfte eingespielt, auch wenn einige Länder, wie Deutschland, noch folgen. „Meine Karriere beruht auf dieser Art Filme“, klagt Soderbergh. Er meint ein mittelgroßes Budget und Starbesetzung. Es gelinge solchen Produktionen seit Jahren nicht recht, Leute über 25 in die Kinos zu locken – Erwachsene, denen man zutraut, sich nicht allein für explodierende Roboter zu interessieren.
Soderbergh spricht in diesem Zusammenhang schon von einer „Todeszone“ des Kinos. „Meine Angst ist nicht“, sagt er, „dass ich nicht vom kommerziellen Erfolg profitiere. Meine Angst ist das absolute Wissen, dass der nächste Filmemacher, der es versucht, eine Abfuhr bekommt.“ Gerade am Tag unseres Gesprächs habe ihm ein Studio-Manager erzählt, wie „Black Bag“ in einer Besprechung über künftige Strategie halbstündiges Thema gewesen sei.
Hat das Kino als Kunstform womöglich seinen Höhepunkt überschritten? Haben ihm die sozialen Medien seine Funktion als Ort kollektiven Träumens abgetrotzt? Soderbergh zweifelt. Eines stehe fest, sagt er: „Als ich klein war, war der erfolgreichste Film des Jahres auch der beste Film des Jahres. Ich glaube nicht, dass das heute noch zutrifft.“
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