Ein kühler Frühlingsmorgen in London, das vorsichtige Grün der Bäume wird fast vom verhangenen Grau des Himmels verschluckt. Die Stufen vor der Tate Britain schimmern von ersten einsetzenden Regentropfen, weiter unten parkt ein roter Doppeldeckerbus mit der Mohnblume des „Poppy Appeals“, mit dem die Royal British Legion der Opfer der Weltkriege gedenkt und Spenden für Veteranen sammelt, Regenjackentouristen ziehen vorbei.

Plötzlich tritt aus dem Dunkel der Eingangstür zwischen den Kolonnaden Graham Swift hervor, als betrete er eine Bühne, mit behändem Schritt und, wie es sich für einen kälteunempfindlichen Engländer gehört, im Jackett ohne Mantel. „Wir müssen zum anderen Eingang, dem an der Seite“, sagt er, „ich will Ihnen etwas zeigen.“

Swift gehört zu einer Generation von britischen Schriftstellern, die die Gegenwartsliteratur ihres Landes geprägt haben mit Romanen, die immer auch die Frage verhandeln, was es heißt, englisch zu sein, in einer Zeit, in der sich das nicht mehr so leicht beantworten lässt. Der Begriff „Nachkriegsliteratur“ für all das, was nach 1945 erschienen ist, „post-war“, was soll das sein, wird er später fragen, in seinem Ton aus ruhiger Präzision und mildem Spott, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa habe es doch noch andere Kriege gegeben.

Ian McEwan, Salman Rushdie, Martin Amis oder Julian Barnes sind wie Swift in den späten 1940er-Jahren geboren und literarisch in London sozialisiert. Swift aber, Jahrgang 1949, dessen Roman „Last Orders“ 1996 mit dem Booker Prize ausgezeichnet und 2001 mit Michael Caine und Helen Mirren verfilmt wurde, ist immer der geblieben, der in die Reihe seiner Generationsgenossen nicht ganz zu passen schien. Vielleicht weil er ruhiger, introspektiver schreibt und auftritt als seine Kollegen. Kein jovialer Kommentator des Zeitgeschehens, sondern ein abwartender Skeptiker, der seit 40 Jahren im selben Haus wohnt und mit derselben Frau verheiratet ist. Seine Schreibroutine: einfach und unspektakulär, ein Schreibtisch, Tinte, Stift, Papier, Laptop, mehr ist da nicht. Also besser ein Treffen im Museum, in der Tate Britain.

Nachwirkungen des Krieges

„Kommen Sie.“ Swift führt die Treppe herunter, Stufe um Stufe englischer Small Talk, halb heiter, halb melancholisch: Ach, das Wetter, gestern war es noch schön, heute nun das, ja, er komme öfter zur Tate Britain, schließlich wohne er im Süden der Stadt, wo er auch geboren wurde. „Ich liebe und hasse London“, sagt Swift, was die londonerischste Liebeserklärung ist, die ein Londoner äußern kann. „Das wollte ich Ihnen zeigen“, sagt Swift und bleibt an der Seitenfassade stehen. „Diese Löcher: Das sind Spuren vom Blitzkrieg. Ich denke, das bedeutet etwas. Es bedeutet mir etwas.“

In seinem neuen Buch, „Nach dem Krieg“, das nun zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs erschienen ist und zwölf miteinander verwobene Erzählungen versammelt, beschreibt er die indirekten Nachwirkungen des Krieges anhand einzelner Familienschicksale. Wie oft bei Swift sind es die sogenannten ganz normalen Leute, die sich hier in den historischen Moment geworfen sehen und ihm mit Stärke, Melancholie, Verzweiflung und oft auch mit Humor begegnen.

Im Original heißt „Nach dem Krieg“ „Twelve Post-War Tales“, Swift ist der Unterschied zwischen „stories“ und „tales“ wichtig, schon weil in „tales“ das Wort „to tell“ (erzählen, sagen) so sichtbar sei, mit etwas Fantasie hört man auch das Echo der mittelalterlichen „Canterbury Tales“.

„Post-war“ bezeichne ja die lange Zeitspanne von 1945 bis heute, sagt Swift: „Wir leben immer noch in der Nachkriegszeit, obwohl manche davon ausgehen, dass die nun an ihr Ende gekommen ist. Die Erzählungen gehören in diesen historischen Abschnitt genauso wie in mein Leben. Sie handeln vom Krieg genauso wie vom Frieden. Ich hätte das Buch natürlich auch einfach ‚Krieg und Frieden‘ nennen können.“ Swift lacht ein kurzes, selbstironisches Lachen. „Eigentlich handeln die Geschichten von der Zeit. Das ist alles so fragil. Wir sind alle Kreaturen der Zeit, von ihr geformt. Je älter wir werden, umso mehr. Irgendwann liegt mehr Leben hinter als vor einem, und man entwickelt einen Sinn für das eigene Leben.“

In der Tate Britain hängen Jahrhunderte von Kunst: Werke von Mary Beale, John Constable, Thomas Gainsborough, Lucian Freud, Christopher Wood, Tracy Emin. Swift geht an der Garderobe im Untergeschoss vorbei und zeigt nach hinten. Dort sei ein Restaurant gewesen, in dem er sich früher gern verabredet habe, das aber geschlossen worden sei wegen eines Wandgemäldes von 1925, das heute als rassistisch empfunden werde, also müssten wir einen anderen ruhigen Platz finden. Jenseits der noch morgendlich leeren Rotundenhalle stehen ein paar Tische am Eingang des Museumscafés.

Denkt er oft an die Spuren des Blitzkrieges, die draußen an der Fassade zu sehen sind, mehr als 80 Jahre später? Kurz nach dem Angriff im Herbst 1940 sprach der damalige Direktor der Tate Britain von einer unvorstellbaren Verwüstung. Was bedeuten die Spuren heute, was bedeuten sie ihm? „Ich bin sicher mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen“, antwortet Swift. „Ich kann mich noch gut an ganze Straßenzüge erinnern, die in London zerbombt waren. Bis weit in die 50er-Jahre.

Das war eine der Attraktionen der Doppeldeckerbusse: Vom Oberdeck konnte man über die Zäune sehen, die um die Bombenkrater gezogen worden waren, auf die Trümmer, den Schutt. Ich erinnere das, ja. Auch die Zeit der Lebensmittelrationierung. Als Kind umgaben mich viele solcher Zeugnisse des Krieges. Es fühlte sich immer so an, als läge der Krieg direkt hinter mir. Er fühlte sich nah an. Das Gefühl habe ich noch immer. In allen meinen Werken kommt der Krieg auf die eine oder andere Weise vor.“ Swift macht eine Pause. „Und mein Vater hat im Krieg gekämpft, er war Pilot.“

Das Schweigen der Väter

In Deutschland, auf Täterseite, flüchteten sich viele nach dem Krieg in Schweigen und Wiederaufbau. Wie war das in England, gab es ein englisches Schweigen? Und wie wurde später gesprochen, als etwa das Bombardement von Dresden durch die Alliierten öffentlich debattiert wurde? „Ich denke, nach jedem Krieg gibt es eine Art Stille“, sagt Swift. „Wer will vom Schlachtfeld kommen und dann gleich über all das Grauen sprechen? Das Schweigen ist ja erstmal ganz menschlich.“

Oft haben die Kinder ihre Eltern zum Sprechen gebracht, die Söhne das Schweigen ihrer Soldatenväter gebrochen. Wie war das bei ihm und seinem Vater? Swift wird für einen Moment still. Er habe gerade einen Essay fertiggestellt über diese Frage, der in diesen Tagen im „Telegraph“ erscheint: Ein, wie sich später herausstellt, anrührender Text über die Suche eines Sohnes danach, wer sein Vater im Krieg war – eines Sohnes, der seinen Vater zeit seines Lebens genauso wenig über seine Kriegserlebnisse zu fragen vermochte, wie dieser von sich aus darüber sprechen konnte.

„Es war einfach schwierig, über den Krieg zu sprechen, wenn man aus ihm kam“, sagt Swift. „Sicher gab es das Bedürfnis zu schweigen. Ein Teil der Familie meiner Mutter ist jüdisch, Vorfahren von mir müssen umgebracht worden sein. Als meine Großmutter noch lebte, hätte ich sie fragen können. Das habe ich aber nie getan.“ Man sieht Swift an, dass ihn sein eigenes Schweigen umtreibt, bis heute, wo er Mitte 70 ist, seine Eltern lange tot sind und der Krieg seit Jahrzehnten vorbei. „Die Zeit vergeht, und irgendwann ist es zu spät, um mehr über Dinge zu erfahren, die man direkt aus dem Mund von jemandem hätte haben können.“

Hilft da die Literatur? Das wäre ein zu billiger Schluss für einen Schriftsteller wie Swift. „Show, don’t tell“, „zeigen, nicht sagen“ hämmere man angehenden Autoren in Creative Writing-Kursen ein, sagt Swift, aber eigentlich stimme das ja nicht. Sie müssten etwas tun, das viel tiefer geht als „zeigen“: erzählen. Er glaube an die Idee der Kunst, sagt er und zeigt nach oben, in Richtung der altehrwürdigen Räume voller Gemälde. „Ich weiß nicht, wie man ein Bild malt, aber von der Kunst des Schreibens verstehe ich ein klein wenig. Nach meinen vielen Büchern denke ich: Das Leben kann so schmerzhaft sein, schwierig, komplex – auch wenn es etwas seltsam klingen mag: Darüber zu schreiben, in einer Weise, die Leser beschäftigt und unterhält, hat etwas Befriedigendes, vielleicht Beruhigendes für mich.“

Es ist Mittag geworden, draußen beginnen die Londoner ihre geschäftige Suche nach einem schnellen Sandwich. Graham Swift wird nach Hause fahren, vermutlich zurück an den Schreibtisch. Mit einem sanften Tippen an die Schulter verabschiedet sich Swift kurz vor der Underground-Station Pimlico; er dreht sich um und ist verschwunden.

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