Der deutsche Cannes-Beitrag „Amrum“ war ursprünglich gar nicht Fatih Akins Film, sondern der von Akins Mentor, von Hark Bohm. Es sind die Kindheitserinnerungen von Bohm, der als Vierjähriger nach dem Feuersturm in Hamburg zusammen mit seiner Mutter und drei Geschwistern auf die Nordseeinsel Amrum verschickt wurde. Bohm schrieb das Drehbuch, und als er zu krank wurde, um den Film selbst inszenieren zu können, überredete er Akin zur Regie.

Es ist ein „Film über weiße Leute und über Nazis“, wie Akin es bei der Premiere dem Saal erzählte – und außer „Tschick“ und „Der goldene Handschuh“ einer der wenigen Filme in seiner dreißigjährigen Karriere, der überhaupt nichts mit der Türkei und türkischem Leben in Deutschland zu tun hat. Neben „Tschick“ ist es Akins einzige Auftragsarbeit, auch wenn der Auftrag von einem engen persönlichen Freund kam – und man ein paar Echos von Akins persönlichen Erfahrungen durchaus entdecken kann.

Einmal lassen seine Mitschüler Bohms Alter ego Nanning – er ist im Film doppelt so alt wie der reale Hark – allein vor der Schule stehen, er sei kein richtiger, hier geborener Amrumer; eine Ausschlusserfahrung, die Akin von seiner Jugend in Hamburg zur Genüge kennen dürfte. Es gibt auch eine Gruppe von Flüchtlingen aus Ostpreußen, die in der geschlossenen Inselgesellschaft so wenig willkommen sind wie die türkischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik der Sechzigerjahre. Und es gibt ein paar Dialoge darüber, was „Herkunft“ eigentlich bedeutet.

Die Mutter vom ideologischen Sockel stoßen

Doch im Wesentlichen ist dies eine durch und durch deutsche Geschichte. Amrum in den letzten Kriegswochen, wo die alliierten Maschinen keine Bomben abwerfen, sondern das sie nur überfliegen. Amrum, wo es auch fanatische Nationalsozialisten gibt, wie Nannings Mutter. Amrum, wo man nicht gerade hungert, die Lebensmittel aber knapp sind. Amrum, wo man denken sollte, dass jeder alles von jedem weiß, es aber trotzdem dunkle Familiengeheimnisse gibt.

„Amrum“, im Vorspann steht „ein Film von Hark Bohm, inszeniert von Fatih Akin“ ist ein Gemeinschaftswerk von zwei Fischköppen, die die Nordsee kennen und lieben, aber nicht Hans-Albers-mäßig sentimental, sondern durchaus mit kritischem Blick, wie schon in Bohms „Nordsee ist Mordsee“. Amrum ist die Insel des unendlichen freien Blicks, aber auch des bedrohlich engen Geistes. Es ist die Heimat von Eigenbrötlern (Detlev Buck verkörpert einen), aber auch von strammen Parteigängern (Laura Tonke als Nannings Mutter spielt eine).

Dies ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden an einem idyllischen Ort (der heute allerdings nicht mehr so kahl ist wie damals; einige Szenen wurden in Dänemark gedreht) in einer ganz und gar nicht idyllischen Zeit. Jasper Billerbeck ist wunderbar als der junge Hark Bohm am Beginn der Pubertät, der seine Mutter vom ideologischen Sockel stoßen muss und sie trotzdem als wichtigste Bezugsperson behalten möchte. Er ist noch ein Kind und wird doch mehrfach mit dem Tod konfrontiert, so wenn er eine kleine, süße Robbe in ihren Tod locken muss oder den NS-Ortsgruppenleiter nach dessen Selbstmord im Büro entdeckt (und die Gelegenheit nutzt, aus dessen Kühlschrank eine Kostbarkeit zu stibitzen, ein Schälchen mit Butter).

„Amrum“ ist kein Film, wie Cannes ihn sucht, etwa wie Mascha Schilinskis stilistisch kühner „In die Sonne schauen“ oder Oliver Laxes zutiefst schockierende Wüsten-Odyssee „Sirāt“. Aber Cannes-Chef Thierry Frémaux hat gerade ein Buch über die Nachkriegszeit in Deutschland verschlungen, und „Amrum“ ist ein Film, der viel mit Roberto Rossellinis neorealistischem „Deutschland im Jahre Null“ zu tun hat. Und es ist ein minimalistisches Werk der Zuneigung, der von Hark Bohm an seinen Kindheitsort und der von Fatih Akin an seinen künstlerischen Vater. Man sieht sehr gerne zu, und von Zeit zu Zeit ist man gerührt.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt beim ursprünglichen Autor. Die erneute Veröffentlichung dieses Artikels dient ausschließlich der Informationsverbreitung und stellt keine Anlageberatung dar. Bei Verstößen kontaktieren Sie uns bitte umgehend. Wir werden bei Bedarf Korrekturen oder Löschungen vornehmen. Vielen Dank.