Viermal hat Israel den Eurovision Song Contest (ESC) bisher gewonnen, zuletzt konnte 2018 die Sängerin Netta die Trophäe nach Tel Aviv holen. Der Wettbewerb hat Kultstatus in dem kleinen Land und ist eines der wenigen Dinge, auf die sich alle einigen können. Doch der 7. Oktober 2023, jener dunkle Tag in der israelischen Geschichte, an dem die Hamas fast 1200 Menschen tötete, war eine Zäsur. Plötzlich wurden die ESC-Beiträge Israels ernst.

In diesem Jahr wird das Land von Yuval Raphael vertreten. Sie überlebte auf dem Nova-Festival den Hamas-Angriff. Doch in den Augen vieler sogenannter Israel-Kritiker ist sie ein Werkzeug des Staates Israel, um vom Gaza-Krieg und den Opfern dort abzulenken. Unter anderem haben 70 ehemalige ESC-Teilnehmer, darunter auch der Schweizer Gewinner von 2024, Nemo, dazu aufgerufen, Israel auszuschließen – andere gehen sogar weiter.

Israel beim ESC 2025: Wenn ein Musikwettbewerb zur politischen Bühne wird

Über den Instagram-Account „@esc.alate4palestine“ organisiert eine anonyme Gruppierung aus dem linksradikalen Spektrum ihre Aktionen während der Wettbewerbswoche in Basel. In den meisten Posts wird sachlich informiert, die Kommentatoren antworten mit Feuer- und Applaus-Emojis. Doch der Name des Bündnisses spricht mit dem Wortspiel aus dem englischen Verb „escalate“ eine eindeutige Sprache: Die Palästina-Unterstützer wollen einschüchtern – und scheinen gewaltbereit.

Wer durch die Stadt läuft, kann die Proteste kaum übersehen: Im Eurovision Village, wo Fan-Veranstaltungen stattfinden, tragen viele Besucher Palästina-Flaggen und Palästinensertücher, Eurovision-Plakate werden mit „Free Gaza“-Parolen übermalt, fast jeden Tag ziehen Protestzüge durch die Basler-Straßen. Es ist eine aggressive Präsenz. Die Demonstranten machen klar, dass sie sich nicht einschüchtern lassen und sie das Sagen haben. Im Gegensatz dazu trifft man in der Stadt kaum Leute, die sich als Israel-Fans erkennbar machen – wahrscheinlich aus Angst vor möglichen Angriffen, seien sie verbal oder körperlich. Hinzu kommt, dass die israelischen Behörden vor einer Reise nach Basel gewarnt haben. Am offiziellen Merchandise-Stand sind die Israel-Artikel noch en masse da, während andere Nationen fast ausverkauft sind. Wer sich doch mit einem Israel-Anstecker zeigt, kassiert schon mal ein „Fuck you“ oder „Go Home“.

Bislang blieben die Proteste friedlich. Jedoch legen sie eine radikalere Attitüde an den Tag als 2024 in Malmö. Die Eröffnungsfeier des ESC, dem sogenannten „Türkisen Teppich“, bei der alle Teilnehmer in einer Tram durch die Basler Innenstadt zogen, nutzen die Israel-Kritiker nicht nur, um Präsenz zu zeigen. Ein Demonstrant machte in Richtung der israelischen Sängerin Yuval Raphael eine Geste, mit der er andeutete, ihr die Kehle durchzuschneiden. Von der Szene existieren Aufnahmen auf dem Kurznachrichtendienst X, die der israelische TV-Sender Kan teilte. Es wurde Anzeige erstattet.

Jüdische Gemeinden in Sorge: „Aggressiver Ton, grenzüberschreitend“

Die Basler Polizei hielt sich bislang zurück – zwar sind Demonstrationen rund um das Eurovision Village an der Messe und dem Eurovision Square in der Innenstadt sowie der St. Jakobhalle, wo die Shows stattfinden, untersagt. Die bisherigen Protestzüge wurden aber nie aufgelöst, sondern lediglich umgeleitet. Gleichzeitig wurde laut Berichten Schweizer Medien eine geplante Kundgebung gegen Antisemitismus nicht genehmigt. Die Behörden vor Ort könnten nicht für die Sicherheit der Teilnehmer garantieren.

Indes nehmen die jüdischen Gemeinden in der Schweiz die Stimmung als sehr aggressiv wahr, wie Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), im Gespräch mit WELT erklärt: „Wir nehmen wahr, dass die Tonlage bei propalästinensischen Demonstrationen immer wieder sehr aggressiv und teils deutlich grenzüberschreitend ist. Die Sorge innerhalb unserer Gemeinschaft ist entsprechend groß.“

Die Rolle der EBU: Zwischen Neutralität und Realpolitik

Die European Broadcasting Union (EBU), welche den Song Contest ausrichtet, war sich der aufgeladenen Stimmung bewusst. Im Vorfeld wurden nur Flaggen von teilnehmenden Ländern im Publikum erlaubt. Das führte zwar zu einem Bann von Transgender- und Regenbogenflaggen, bedeutet aber auch: keine Palästina-Flaggen. Dennoch konnten in der St. Jakob Halle beim zweiten Halbfinale Dutzende im Publikum entsprechende Flagge hochhalten, während die israelische Sängerin auf der Bühne stand. Die Security in der Halle kam teilweise erst, nachdem der israelische Song zu Ende war auf die entsprechenden Personen zu. Auch Buhrufe waren in der Halle deutlich zu hören. Neutralität sieht anders aus.

Auf Anfrage von WELT sagt EBU-Direktor Martin Green, man respektiere das Recht auf freie Meinungsäußerung. Man verstehe die Besorgnis über den aktuellen Konflikt im Nahen Osten, allerdings sei „die EBU nicht immun gegen globale Ereignisse.“ Es sei nicht ihre Aufgabe, Vergleiche zwischen Konflikten anzustellen. Zudem sei das israelische EBU-Mitglied Kan bedroht durch Privatisierung und Schließung durch die israelische Regierung – was auch an der zum Teil kritischen Berichterstattung des Senders über den Gaza-Krieg und die Rolle des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu liegt.

Insofern unterscheidet sich der israelische Wettbewerbsbeitrag von früheren russischen Teilnehmern, die aufgrund des Ukraine-Kriegs seit 2022 nicht mehr an dem Wettbewerb teilnahmen. Das damalige russische EBU-Mitglied setzte sich nämlich keinesfalls kritisch mit dem Handeln der Regierung auseinander. Fakt ist aber auch: Der Beitritt Israels zur EBU 1973 unterstrich eine kulturelle Bindung an Europa und schaffte Distanz zur arabischen Welt. Insofern war eine israelische Eurovision-Teilnahme nie unpolitisch. Der Wunsch der EBU, neutral zu sein, stößt an seine Grenzen in der politischen Realität – und gibt einer radikalen, gewaltbereiten Protestbewegung Nährboden.

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