Dieses Jahr gibt es zwei deutsche Beiträge im Wettbewerb von Cannes: Mascha Schilinskis zartes Mehrgenerationendrama „In die Sonne schauen“ – und die finstere Flotte grimmig dreinblickender Kühlerhauben, hinter denen sich dicke Elektro-BMWs verbergen, die meisten mit dem Kennzeichen „M-AD“, was wohl wörtlich gemeint ist. Als offizielle VIP-Shuttles parken sie wie eine Herde grasender Büffel entlang der Riviera, dem abgesperrten Strandteil neben dem Palais des Festivals, in dem die Premieren stattfinden. Sie drängeln sich auf der Croisette durch den endlosen Strom aus Passanten. Wirken brutal und zugleich diskret, mit ihren verdunkelten Scheiben, aus denen kaum je ein Prominentenarm winkt. Ein Rätsel, wer da gerade wohin chauffiert wird.
Es sind praktisch alle da bei den Filmfestspielen von Cannes: Tom Cruise, Robert De Niro, Wes Anderson, Quentin Tarantino, Jennifer Lawrence, Richard Linklater, Angelina Jolie, Alexander und Stellan Skarsgård, Nicole Kidman, Rihanna, Scarlett Johansson, Kristen Stewart, Pedro Pascal, Austin Butler, Emma Stone, Joaquin Phoenix und Dakota Johnson. Hollywood dürfte sich in diesen Tagen ziemlich leer anfühlen.
Als Journalist geht man zu Fuß, was nicht unbedingt ein Vergnügen ist. Am Samstag wurde ein japanischer Produzent von einer Palme erwischt, die windgetost umkippte, und offenbar schwer verletzt. Selbst wenn sich die Vegetation im Zaum hält, gleicht der tägliche Weg entlang der Mittelmeerpromenade einem Spießrutenlauf – überall Absperrungen und Polizisten mit Maschinenpistolen, dazwischen Baustellen, Lamborghinis und eine Million keck herumpendelnder Gucci-Handtaschen.
Es ist wie eine Waschstraße für Millionäre. Selbst im Smoking fühlt man sich hier tendenziell underdressed. Und wehe, man kommt von Westen und muss auf die Ostseite des Palais, zum Beispiel in einen Saal namens Debussy, in dem viele Pressevorführungen stattfinden. Für die 150 Meter kann man eine gute halbe Stunde einplanen. Das wichtigste Outfit für den roten Teppich ist das Nervenkostüm.
Frühmorgens beginnt und endet nur Sekunden später die alltägliche digitale Ticketlotterie. Das Hauen und Stechen um die begehrtesten Plätze ist in Wahrheit der härteste Horrorfilm des Festivals, eine Art „Squid Game“ für Cineasten. Und alle müssen mitspielen. Ergattert man einen Platz in der Hauptspielstätte, dem Grand Théâtre Lumière, erlebt man weinende Stars und Standing Ovations, die eifersüchtig in Minuten gemessen werden.
Das rührt manchmal sehr, wie bei der Uraufführung von Jafar Panahis „A Simple Accident“. Der iranische Regisseur, in seiner Heimat mit Berufsverbot belegt, muss seine Filme heimlich drehen, auch wenn man sich fragt, wie das immer wieder klappt und warum die Revolutionswächter ihn und seine Schauspieler nach Cannes reisen lassen. Jedenfalls wünscht man niemandem, unter solchen Bedingungen leben und arbeiten zu müssen.
Der neue Film ist eine direkte Auseinandersetzung mit den unmenschlichen Repressionen im Iran. Eine Gruppe einfacher Leute kidnappt ihren schlimmsten Folterknecht, der sie vor Jahren aufs Übelste malträtiert hat, als sie für Lohnerhöhungen auf die Straße gingen. Es entspinnt sich ein Moralstück, das die Frage aufwirft, ob und wie Rache sinnvoll und möglich ist. Zwischendurch kommt es zu absurden Szenen, als einer der Kidnapper nicht anders kann, als für die Geburt des Sohnes seines Peinigers zu zahlen.
Der Applaus danach wollte so wenig ein Ende nehmen wie der Tränenfluss des Regisseurs. In solchen Momenten muss das Kino nicht erklären, warum es immer noch da ist, im globalkapitalistischen Wettbewerb um Aufmerksamkeit, in denen die Konkurrenten Netflix, HBO, TikTok und Instagram heißen und immer mehr Leute lieber mit ChatGPT plaudern, als in die Kästen zu gehen, die an den Straßenecken stehen und vorsintflutliche Namen tragen wie Odeon, Titania oder Rex. Wenn das Kino, wie bei Panahi, ohne Umwege Kopf und Herz erreicht und man es, für einen Moment immerhin, verändert verlässt, erhoben und beschwingt, hat es sein Soll erfüllt. Das Prinzip ist: Katharsis – eine innere Reinigung wie nach Sport oder Meditation, bloß für den Gefühlshaushalt.
In Cannes hält das allerdings nur bis zur nächsten Rechnung. Ein Bier im nahen Burgerladen Steaks’n’Shakes, einer Art inoffizieller Kantine, kostet neun Euro. Die Meeresfrüchteplatte im Astoux et Bruns, dem berühmtesten Fischrestaurant vor Ort, türmt sich für knapp 140 Euro. Dafür starren einen die Garnelen aus toten Augen an wie frisch geschlüpfte Xenomorphs, die Ungeheuer aus „Alien“. Bloß sind sie nicht schwarz, sondern orange.
Apropos, Trumps Plan, auf „fremdländische“ Filme Zölle von 100 Prozent zu erheben, ist überall Diskussionsthema, in den Gaststätten wie bei den Pressekonferenzen. Der sogenannte Markt, die Messe, die im Souterrain des Festivalpalasts gleichsam im Schatten der Öffentlichkeit vonstattengeht, reagiert darauf mit Zurückhaltung. Dass ein Verleiher für internationale Rechte mehr als 20 Millionen lockermacht, wie dieses Jahr Mubi für Lynne Ramsays Post-partum-Depressionsdrama „Die, My Love“ mit Robert Pattinson und Jennifer Lawrence, hat Seltenheitswert.
Wes Anderson, der seinen neuen Film „Der phönizische Meisterstreich“ mit Benicio del Toro im Wettbewerb vorstellt, macht sich über die angekündigten Zölle lustig, immerhin seien Filme keine Güter, sondern Dienstleistungen. In Aristoteles’ kathartischem Sinn mag das stimmen, trotzdem hat der Mann leicht reden; er lebt in Paris und hat in Babelsberg gedreht. Seit einer Weile floppen seine Filme; das Publikum hat sich an den Familienaufstellungen in süßem Pastell überfressen wie an zu vielen Macarons. Doch in Cannes liebt man ihn und lädt ihn immer wieder ein.
Es soll Regisseure geben, die allein von ihren Festivalgigs leben, das heißt, der kleinen, aber feinen Finanzierung, die sie dafür von den öffentlichen Subventionsfonds bekommen, bei denen sich zumal die Deutschen hervortun. Geld des Medienboards Berlin-Brandenburg steckt in vielen Wettbewerbsbeiträgen. Der Koreaner Hong Sang-soo ist so ein Kandidat, der mit seinen wackeligen Heimvideos ein Abo auf die Berlinale hat. Unter der Vorsitzenden Juliette Binoche sitzt er in der Jury.
Noch ist schwer zu sagen, wen die Jury mit den Preisen, allen voran der Goldenen Palme, bedenken wird. Dem deutschen Beitrag, erst der zweite Film der bis dato wenig bekannten Schilinski, werden gute Chancen eingeräumt, ebenso einem anderen frühen Außenseiter, „Sirat“ von Óliver Laxe: ein postapokalyptischer Fiebertraum, in dem dräuende Technobässe in der marokkanischen Wüste erst Sandkörner und dann die handelnden Personen in die Luft jagen. Auch Kleber Mendonça Filhos brasilianischer Beitrag „Der Geheimagent“ steht hoch im Kurs, eine elegante, in schwelgerischer Panavision gedrehte Aufarbeitung der Miltärdiktatur mit „Narcos“-Star Wagner Moura als liberalem Wissenschaftler, der sich mit dem Falschen anlegt. Der Film wirkt wie der verlorene Bruder von Walter Salles’ „Für immer hier“, der sich im vergangenen Jahr dem gleichen Thema widmete und zu Recht den Oscar als bester internationaler Film bekam.
Insgesamt ist der Wettbewerb des Jahres 2025 gut bis stark. Es finden sich aber wenige Ausreißer nach oben und unten, abgesehen von Julia Ducourneaus „Alpha“, dem Nachfolger des sensationellen „Titane“, der vor drei Jahren den Hauptpreis gewann. Die wirre Pubertät-trifft-Pandemie-Geschichte, in der die Menschen buchstäblich versteinern, fiel komplett durch.
Allerdings haben auch die Rohrkrepierer ihre Fans. Ich habe Mario Martones „Fuori“, allgemein verrissen, geliebt: eine sonnenstrahlend-flirrende Hommage an die italienische Schriftstellerin Goliarda Sapienza (Valeria Golino), darin nächtliche Spritztouren mit geklauten Alfa Romeos durchs Rom der 1980er-Jahre, an der Seite wilder Rotbrigadistinnen. Das Gleiche gilt für Tarik Salehs „Eagles of the Republic“, Abschluss seiner Kairo-Trilogie, in dem ein Starschauspieler (Fares Fares) erkennen muss, dass hedonistischer Opportunismus seine Grenzen hat. Einmal fällt der Satz: „Wir sagen Worte und erleben Gefühle, die nicht die unseren sind“ – für Schauspieler eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wenn sie einem aber ein autoritäres Regime abpresst, beginnen sie zu schmerzen.
Gleich vier Wettbewerbsfilme handeln von derlei Oppression – fünf, wenn man Ari Asters Versuchsanordnung sämtlicher Absurditäten der amerikanischen Gegenwart mitzählt: In „Eddington“ verliert sich Joaquin Phoenix als Kleinstadtsheriff in einem zusehends eskalierenden Krieg aus Pandemie, Verschwörungstheorien, Social-Media-Wahnsinn und Identitätspolitik. Vielleicht, weil der Film nur analysieren will und sich auf keine Seite schlägt, zeigte ihm die Kritik die kalte Schulter. Er wird Cannes überleben, als wichtiger Beitrag zur Frage, wie wir aus dem Schlamassel wieder herauskommen.
Vielleicht der einzige Beitrag, auf den sich alle einigen können, ist Richard Linklaters „Nouvelle Vague“, ein so akribisches wie liebevolles Reenactment der Dreharbeiten zum legendären „Außer Atem“ (1960). Jean Seberg (Zoey Deutch) mäkelt so penetrant an allem herum, dass an ihr eine Filmkritikerin verloren gegangen scheint, Belmondo (täuschend echt: Aubry Dullin) tänzelt verwegen durchs Schwarzweiß. Die Hauptrolle spielt Godards Sonnenbrille. Am Ende spiegelt sich darin der Schriftzug „Fin“. Doch ein Ende gibt es nur im Einzelfall. Nach einer Woche Cannes ist auch der größte Zweifler sicher: Das Kino ist wie Benicio del Toros Held im neuen Anderson, auf den tausend Attentate verübt werden. Er wird sie alle überleben.
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